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WM-Aus
DFB-Boss fordert Antworten von Flick und Bierhoff

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neundorf, neundorf Foto: dpa

Ein einfaches „Weiter so“? Nicht mit Bernd Neuendorf. Der DFB-Präsident macht eine Zukunft mit Bundestrainer Flick und besonders Direktor Bierhoff von deren WM-Analyse und der EM-Perspektive abhängig.

Das Schlussbild der für Deutschland von vorne bis hinten vermaledeiten Fußball-WM in Katar zeigte die Flucht des geschockten DFB-Trosses aus der staubigen Wüste. Im sterilen Flughafen-Ambiente mühte sich der wartende Verbandspräsident um Sachlichkeit und Geduld. Hansi Flick, Oliver Bierhoff und die anderen großen WM-Verlierer saßen im Bus auf dem Weg aus ihrer Quartier-Blase im Norden des Emirates, als Bernd Neuendorf nach dem nächsten Vorrunden-Aus der Nationalmannschaft bei einem improvisierten Medientermin am Hamad International Airport das weitere Vorgehen skizzierte.

Kein Aktionismus, kein Rauswurf, keine Schnellschüsse - das war die Botschaft des DFB-Bosses. Der erst seit knapp neun Monaten amtierende Neuendorf hatte noch in der Nacht nach dem nächsten deutschen Vorrunden-Desaster einen „Fahrplan“ entwickelt, ein „geordnetes Verfahren“, wie er es nennt. Erste Maßnahme: Für die kommende Woche berief er eine erste Krisensitzung ein. Teilnehmer: Bundestrainer Flick, Nationalmannschaftsdirektor Bierhoff, DFB-Vizepräsident und DFL-Aufsichtsratschef Hans-Joachim Watzke, den Fans besser bekannt als Chef von Borussia Dortmund, und ihm als Verbandsboss.

„Meine Erwartung an die sportliche Leitung ist, dass sie zu diesem Treffen eine erste Analyse vornimmt, eine sportliche Analyse dieses Turniers. Dass sie aber auch Perspektiven entwickelt für die Zeit nach dem Turnier mit dem Blick auf die Europameisterschaft im eigenen Land“, sagte Neuendorf, nachdem er gerade für den Sonderflug LH343 eingecheckt hatte. Dieser sollte den Großteil des DFB-Trosses nach dem nutzlosen 4:2 gegen Costa Rica am Freitagnachmittag nach Frankfurt heimbringen.

Die Analyse müsse auch „die Entwicklung der Nationalmannschaft, unseres Fußballs seit 2018, seit der letzten WM“, umfassen, betonte Neuendorf. Damit gerät der seit 18 Jahren verantwortlich zeichnende Langzeit-Manager Bierhoff deutlich mehr ins Visier als Flick, der als Bundestrainer erst vor 15 Monaten Joachim Löw abgelöst hatte.

„Das Ausscheiden aus dem Turnier schmerzt außerordentlich“, sagte Neuendorf noch. Heißt: Titelerwartungen nicht erfüllt, nicht mal Minimalziele. Der Boss muss nun aufräumen. Neuendorf kündigte noch an, „keine Wasserstandsmeldungen“ abgeben zu wollen. Erst nach dem internen Gesprächs- und Analyse-Prozess will er „ein Ergebnis“ verkünden. Zeitpunkt offen. „Wir machen den ersten Schritt bitte vor dem zweiten“, sagte Neuendorf.

Ein fatales „Weiter so“ wie 2018 mit Löw und Bierhoff kann nach dpa-Informationen ausgeschlossen werden. Auch Flick erhält keinen Freifahrtschein als Chefcoach Richtung Heim-EM 2024. Beide, Flick wie Bierhoff, hatten im ersten Schockmoment des nächsten Turnier-Desasters erklärt, dass sie ihre Arbeit fortsetzen wollen, die EURO in 18 Monaten ihr nächstes Ziel sein soll. Beide haben beim DFB Verträge bis zum Sommer 2024.

Geht das? Vier Jahre nach dem historischen Gruppen-K.o. im russischen Kasan steht das imposante Beduinenzelt-Stadion von Al-Chaur für den nächsten Tiefpunkt des deutschen Fußballs. Und das nur anderthalb Jahre vor der EM im eigenen Land. Ein Sommermärchen reloaded 2024 - wer mag daran aktuell glauben? Jürgen Klinsmann, der Baumeister des beschwingten WM-Sommers 2006 mit den jungen Fan-Lieblingen „Poldi“ und „Schweini“ sowie einer deutschen Mannschaft, die für Platz drei wie ein Weltmeister gefeiert wurde, sagte als Kenner der Szene erstmal „sehr, sehr raue“ Adventstage voraus.

Ein medialer „Hurrikan“ werde aufziehen, prophezeite der Weltmeister von 1990. Im Auge des Sturms stehen Flick und Bierhoff und direkt dahinter etliche Spieler, die erneut versagt haben. „Die letzte Gier, dieses etwas dreckige - das fehlt uns“, sagte Abwehrchef Antonio Rüdiger. Ob er auch sich meinte? Joshua Kimmich, der Anführer und das Sinnbild der vermeintlich goldenen Generation 1995/96, war weit nach Mitternacht in der Interviewzone des Stadions sichtlich angefasst, demoralisiert und fast schon desillusioniert.

Der 27-Jährige sprach mit feuchten Augen vom „schwierigsten Tag meiner Karriere“, von der „Angst, echt in ein Loch zu fallen“. Der ehrgeizige Profi, der mit dem FC Bayern Siege und Titel auf allen Vereinsebenen eingefahren hat und gewohnt ist, beschönigte nichts. „Gerade, wenn man zurückguckt: 2018 vergeigt. Letztes Jahr die EURO in den Sand gesetzt.“ Und jetzt die WM 2022. Er mochte nicht mehr von „Pech“ sprechen, sondern von „sehr viel Unvermögen“.

Der Reflex, die Ausflucht, mit dem Finger auf die Spanier zu zeigen, weil das eigene, wilde, nicht ansatzweise titelreife 4:2 gegen Costa Rica nur deshalb nicht reichte, weil diese gegen Japan verloren - übrigens 1:2, wie die DFB-Auswahl zum Turnierstart auch - wurde kollektiv vermieden. „Ich glaube nicht, dass es uns zusteht, Spanien einen Vorwurf zu machen“, sagte Kimmich. Die eigene Performance stimmte nicht in Katar: Vom Umgang mit der One-Love Binde, dem selbst gewählten Entzug eines WM-Feelings in der abgeschiedenen Trutzburg von Al-Ruwais, bis hin zur fokussierten Leistung auf dem Platz über 90 Minuten.

Ex-Kapitän und Rio-Held Bastian Schweinsteiger vermisste als ARD-Experte das „Brennen“ im deutschen Team. Das Wort des Abends lautete dann aber „Wut“. Wut auf sich selbst. Und Unverständnis über das eigene Versagen. Flick, der bewunderte Titelsammler mit dem FC Bayern, hat sich beim Turnierdebüt als Nationaltrainer selbst entzaubert. Aufgeben will er aber nicht. „Mir macht es Spaß. Wir haben eine gute Mannschaft“, sagte er.

Das von ihm ausgerufene Ziel Titelgewinn, den Auftrag, die Nationalmannschaft „zurück an die Weltspitze“ zu führen, hat der 57-Jährige weit verfehlt. Flick kündigte für sich selbst eine „sehr, sehr schnelle“ Aufarbeitung an. „Ich bin immer einer, der sehr kritisch ist.“ Er hat sich angreifbar gemacht, mit der Gestaltung der kurzen Vorbereitung, dem sturen Festhalten an Thomas Müller, faulen Kompromissen bei Aufstellungen, Umstellungen und Wechseln. Wenig passte. Den Japan-Fehlstart zum Knackpunkt fürs verpasste Achtelfinale zu erklären, wäre auch zu billig. Argentinien begann mit einem 1:2 gegen Saudi-Arabien ähnlich. Aber dann korrigierten Lionel Messi und Teamkollegen unter extremen Druck den Fehlstart mit zwei Siegen. Das DFB-Team brachte seine Qualität immer nur sporadisch auf den Rasen.

Ein Umbruch ist nötig. Auch ein Umdenken. Rücktritte gab es nicht sofort, auch wenn Müller (33) sich via Fernsehen schon von den Fans verabschiedete, dann aber ankündigte, sich erst noch mit Ehefrau Lisa zu beraten und mit Flick sprechen zu wollen. Selbst Kapitän Neuer (36) will weitermachen, „soweit ich eingeladen werde und meine Leistung zeige“.

Die Hoffnung für die Zukunft verkörpert am ehesten Jamal Musiala, mit dem Flick mitlitt: „Es ist echt schade, dass so ein Spieler nicht mehr mitspielen darf (bei der WM).“ Der 19-Jährige war in Katar der Lichtblick in der deutschen Düsternis. Ebenso Niclas Füllkrug, der Top-Joker, ein bodenständiger Typ. Ein Exot im DFB-Orbit. Mehr davon wünschen sich die Fans.

Flick wehrte sich, seinem WM-Kader das Potenzial abzusprechen. „Wir haben Spieler, die bei Top-Vereinen spielen. Wir haben Qualität.“ Heben konnte er sie nicht. Rudi Völler trat nach dem EM-Vorrunden-Aus 2004 als Fan-Liebling zwei Jahre nach dem sensationell erreichten WM-Finale in Japan und Südkorea von sich aus zurück, weil er die Hypothek als zu groß erachtete, vor der WM im eigenen Land eine Aufbruchstimmung zu entfachen.

Damals übernahm als großer Revolutionär Klinsmann, der Verband und Team auf links drehte. Er war es auch, der den Posten des Teammanagers erfand. Bierhoff übt ihn seitdem aus, inzwischen im mächtigen Range eines Direktors Nationalmannschaften. Der 54-Jährige schloss persönliche Konsequenzen aus. „Ich habe ein sehr gutes Gefühl für mich“, sagte er in der Nacht zum Freitag mit fahlem Gesicht. „Leider habe ich keine Argumente mit drei schlechten Turnieren, die ich dagegenhalten könnte“, sagte er. Macht er womöglich doch selbst den Weg für einen Neuanfang frei?

WM-Vorrunden-Aus 2018, EM-Achtelfinal-Aus 2021, WM-Vorrunden-Aus 2022 - die so stolze Fußball-Nation Deutschland, dekoriert mit vier WM-Titeln und drei EM-Pokalen, hat das Gütesiegel Turniermannschaft endgültig verloren. In Al-Chaur endete ein Zyklus. Mit einem 4:2 gegen Costa Rica im WM-Eröffnungsspiel 2006 begann Bierhoffs Turnier-Ära. Endet sie auch mit einem 4:2 gegen Costa Rica 18 Jahre später?

Das EM-Eröffnungsspiel findet am 14. Juni 2024 auch wieder in der Münchner Allianz Arena statt. Mit Flick? Mit Neuer, Kimmich, Musiala? Wer weiß. Erst einmal muss Neuendorf den Weg in die trist wirkende Zukunft aufzeigen. Erst im März gibt es die nächsten Länderspiele. Nicht nur Gegner und Spielorte sind offen.

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