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EM: Zwischen den Polen
Revierarithmetik an der Weichsel

Zwischen den Polen: Revierarithmetik an der Weichsel
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Schiphol, Amsterdam. Nach zwei Stunden Schlaf warte ich auf meinen sechsten Flug in dieser Woche. Leicht erschöpft bin ich, aber auch glücklich.

Immerhin muss ich nicht den Reisebus-Woźniak nehmen. Meine Stimme dagegen blieb, nach einem Wechselbad der Gefühle, in unserer neuen Nationalsauna in Warschau.

Männer weinen nicht und Fußball gilt als die letzte Bastion einer maskulinen Welt. Demnach muss es wohl der Überschuss an Testosteron gewesen sein, der gestern gegen 18 Uhr aus zahlreichen Augen floss und die weiß-roten Gesichter verwischte. Gerne hätte ich an dieser Stelle geschrieben, ich hätte noch nie so viele Männer weinen sehen, doch dies wäre eine Lüge. Schließlich hatte ich zu dieser Zeit selber etwas im Auge und konnte durch das ganze Wasser kaum meinen Nebenmann erkennen. Auch Klöße, durchaus eine Spezialität der polnischen Küche, gab es gestern rechts und links, vor allem aber im Hals.

Jakub Wawrzyniak, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen aktuellen polnischen Nationalspieler, wurde 1980 in Poznan geboren, kam 1996 als Diplomatenkind nach Köln und wurde 2007 Vizekonsul für Kulturangelegenheiten und Öffentlichkeitsarbeit im polnischen Generalkonsulat. Seit Kindertagen ist er bekennender Fußball-Fan und Mitglied der Leidensgemeinschaft des 1. FC Köln. "Der Glaube kann Berge versetzen" ist sein Credo - als Pole, leidenschaftlicher Anhänger seiner "Kadra" und EM-Reisender ist er sehr gläubig und für RevierSport als Gastkolumnist tätig.

Bereits am Vormittag taten meine Gefühle etwas, worauf unser Trainer Smuda am Abend verzichtete: sie wechselten. Eine Mischung von Freude, Stolz, Euphorie - es knisterte in der Luft. „Gazeta Wyborcza“, die größte polnische Tageszeitung, versicherte den letzten Ungläubigen, es sei kein Traum, es sei EURO 2012. In der Tat, vieles erschien unglaublich, einfach unwirklich. Zunächst die große Einheit: „Wo zwei Polen, dort drei Meinungen“ war nun Geschichte. Bis auf unseren WM-74-Helden Jan Tomaszewski schien sich jeder zu unserer Mannschaft öffentlich zu bekennen. Weiß-rot im Herzen, aber auch im Gesicht, auf der Brust, auf dem Kopf, in der Hand. In den Geschäften zweier großen Sportartikelhersteller gab es eine Zeitreise: schier endlose Schlangen und Retrotrikots mit dem weißen Adler ohne Krone. Im Unterschied zu damals: die Läden sind voll und die Polen eine moderne Konsumgesellschaft geworden.


Im Hals ein Kloß, im Unterbewusstsein stets das Gefühl, etwas historisches zu erleben. Ganz Europa ist bei uns zu Hause, die ganze Welt blickt nach Polen. Unterwegs treffe ich Griechen, Ukrainer, Spanier, Italiener, Deutsche und jede Menge Iren. Sie lachen, singen, trinken. So oder auch umgekehrt, eigentlich beliebig austauschbar, sofern das Trinken genannt wird. Ein buntes Meer im weiß-roten Ozean. Boenisch ist der Buhmann

Mittags lecker „schabowy“ (unser Schweineschnitzel) in guter Gesellschaft alter Bekannter aus dem Revier: während Mama Boenisch bereits den Tunnelblick hat und (leicht besorgt) in Gedanken bei ihrem Sohn ist, philosophiere ich mit Papa Boenisch über den möglichen Ausgang des Spiels: Ein Arbeitssieg muss her! Später am Abend denke ich wieder an Mama Boenisch, als einige in meinem Block Sebastians Leistung mit lauten „Jakub Wawrzyniak“-Rufen als verbesserungswürdig kommentieren. So schön die Rufe auch klingen, Namensvetter hin oder her, ich halte zu Basti. Polonia Dortmund macht das Spiel, ein Ex-Schalker wird zum Sündenbock, diese Revierarithmetik ist auch an der Weichsel angekommen. In der Tat erinnert mich das Spiel an die letzten Besuche im Westfalenstadion. Gänsehautatmosphäre in einer fantastischen Arena. Immer am Rande des Herzstillstands. Tolle Dramaturgie für den neutralen Zuschauer, Horror pur für den Fan. Polonia Dortmund bestimmt das Geschehen, Lewandowski macht das Tor. Der Schiedsrichter lässt sich von der weiß-roten Euphorie tragen und da es noch keine Weißen Karten gibt (das wäre es doch, oder Herr Blatter?), verschenkt er halt Rote. Vielleicht ist er in Gedanken noch bei der Eröffnungszeremonie: auch da ließ man uns bunte Karten in die Höhe stemmen, um gemeinsam eine gelungene Choreographie zu gestalten. So etwas färbt sicher ab. Lieber ein Sieg von der Bank aus als ein Remis auf dem Platz

Anstelle eines 3:0 geht es mit einem kleinem Vorsprung in die Pause. Auf den Rängen wird bereits vom Viertelfinale gesprochen. Im Anschluss die Wende: Ausgleichtor, Abseitstor und Elfmeter. Szczęsny fliegt vom Platz, Tytoń in die richtige Ecke. Unser Held! Als ich ihn abends im Hotel treffe, strahlt der junge Torwart, gibt jedoch zu: statt dem schnellen Aufstieg zum Helden hätte er lieber als Ersatzmann die drei Punkte gewollt.

Tytón hält den Strafstoß, aber am Spiel der Polen änderte sich trotzdem nichts.

Nach seiner Glanztat wird leider eine weitere Wende verpasst, die Euphorie verpufft ein wenig, obgleich wir unermüdlich klatschen und singen. In diesen Augenblicken wünsche ich unserem Team einen Spieler wie Günther Netzer. Einen genialen Spielmacher, der Robert Lewandowski mit Pässen füttern könnte. Vor allem aber einen, der Mut genug hätte, sich selbst einzuwechseln. Dann wäre mit Sicherheit ein Sieg im Auftaktspiel möglich gewesen. Ein Sieg für fast alle Polen (mit Ausnahme Jan Tomaszewski), ein Sieg für Ralf Piorrs Wetteinsatz. Dann halt im nächsten Spiel. Einem Spiel, bei dem es ausnahmsweise nicht schon um alles, aber mit Sicherheit um vieles geht. Doch bevor es Polen gegen Russland heißt, drücke ich heute Abend euren/unseren Geburtstagskindern der Woche die Daumen und freue mich auf polnische Tore gegen Portugal. Dann endlich auch zur Freude von Jan Tomaszewski. Zum Schluss gute Nachrichten, obgleich ich inzwischen mit Philipp-Lahm- und Ricardo-Quaresma-Aufkleber ein ganzes Zimmer tapezieren könnte: ich brauche „nur“ noch 69 Bilder für mein Sammelalbum. Daumen drücken!

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