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WM-Anpfiff
Lust auf Fußball und Meuterei

WM-Anpfiff: Lust auf Fußball und Meuterei
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Über dem Anpfiff der WM hängt wie eine dunkle Wolke die Frage, wer in den kommenden vier Wochen wen in den Hintergrund drängt:

Der Fußball die Probleme des Landes oder umgekehrt. Mexikaner in grünen Shirts, das Orange der Niederländer, die Chilenen in Rot, die Ecuadorianer in Gelb: Die Copacabana, der mondäne Strand Rio de Janeiros, füllt sich endlich mit fröhlich feiernden Fans. Ein echtes Kontrastprogramm zu São Paulo.

Dort hatten die Protestmärsche mit Bannern der "Bewegung obdachloser Arbeiter" (MTST), der streikenden U-Bahn-Bediensteten oder Lehrer, der Aktivistengruppe "Não vai ter Copa" (Es wird keine WM geben) eine merkwürdige Atmosphäre in der 20-Millionen-Stadt geschaffen, in der am Donnerstag Brasilien auf dem Platz gegen Kroatien und außerhalb des Stadions seinen Schicksalsweg für die nächsten 30 Tage einschlägt.

Noch gärt es eher im Kleinen und nach Interessen getrennt. Die immerhin 12.000 MTST-Anhänger, die vor einer Woche Richtung WM-Arena Itaquerão marschierten, ließen sich mit versprochenem Bau von Wohnsiedlungen inzwischen besänftigen. Der Burgfrieden mit den Metro-Angestellten wurde radikaler durch fristlose Entlassungen erzwungen. Und weil man auch von den WM-Gegnern dieser Tage verdächtig wenig hört, scheint das Land von einer General-Mobilmachung weit entfernt.

Doch vor einem Jahr reichten wenige Centavos (kleinste Währungseinheit), um Lunten zu zünden. Erst waren es eine Handvoll Studenten, die gegen Preiserhöhungen in den Bussen protestierten. Dann Hunderte, die von unvorbereiteter Polizeigewalt eher angestachelt als vertrieben wurden. Und als die WM-Generalprobe Confed Cup anlief, war der Strom der Menschenmassen auf die Straßen und Plätze Brasiliens nicht mehr zu stoppen.

"O Gigante acordou", der Riese ist erwacht, hallte es landauf, landab. Die ewige Verschwendung öffentlicher Gelder, diesmal konkret in die WM-Stadien, die teils miserable Grundversorgung in staatlichen Aufgabenbereichen wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit oder Verkehr, die politische Korruption, der man von oben kein Ende setzen will, gaben all dem ein weites, aber auch diffuses Bild.

Dennoch hat dieses Land schon jetzt ein lohnendes WM-Vermächtnis. Nicht die Beton-Arenen, nicht neue Flughäfen, Busspuren oder Straßen, sondern die Gärung im Volk. Der rollende Ball mag zwar die bedrückende Atmosphäre kurzzeitig aufhellen, für die Lösung der Probleme ist aber im Wahljahr der 5. Oktober der Stichtag. Dann hört zwar nicht mehr die Welt zu, aber politische Entscheidungsträger auf Bundes- und Landesebene.

Doch war dieser Tage auch zu lesen: Wenn der brasilianische Bürger so fordernd wäre wie der Fußballfan hier, wären wir auch auf anderen Feldern Weltmeister. Über Bauten, deren Kosten explodieren und die Zeitlimits überschreiten, wie im Fall der WM-Arenen, wird zwar laut geschimpft, daran ändern, so die Volksmeinung, kam man aber eh nichts.

Und so flammt, zwar noch zögerlich, der Enthusiasmus für die Endrunde im eigenen Land auf. Abzulesen am Run auf Eintrittskarten, an den langen Warteschlangen bei der Tour da Taça, der Rundereise des Weltpokals durch die zwölf WM-Spielorte.

Für den endgültigen Stimmungsumschwung könnten aber ausgerechnet die ausländischen Fans sorgen. Denn diese sind nicht nur bunt gekleidet, sondern haben auch viel Geld für ihr WM-Erlebnis investiert, um "na Terra do Futebol", dem Land des Fußballs, einfach nur eine gute Zeit zu erleben - und keine Meuterei.

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