Tina war elf Jahre alt, als ihr Martyrium schleichend seinen Lauf nahm. Es begann mit sexistischer Sprache im Training, irgendwann wurden Küsschen zur Begrüßung und zum Abschied Normalität, es folgten Umarmungen unter der Dusche, mit 14 Jahren der erste Sex.
Als „der coole Freund“ verkaufte sich ihr neun Jahre älterer Turntrainer. In Wahrheit war er ihr Peiniger, ein Sexualstraftäter, der die kindliche Naivität seiner Schutzbefohlenen perfide ausnutzte: „Er hat alles Mögliche mit uns ausprobiert, manchmal waren wir zu mehreren.“
Tina ist eine von 72 mutigen Betroffenen sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, auf deren erschütternden Berichten sich eine Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stützt. Der am Dienstag in Berlin veröffentlichte Bericht rückt ein noch immer vernachlässigtes Thema in den Mittelpunkt: Der organisierte Vereinssport hat ein Problem mit sexualisierter Gewalt und sexuellem Kindesmissbrauch.
Die Fallstudie, sagte Heiner Keupp als Mitglied der Aufarbeitungskommission, richte den „Blick auf die dunkle Seite des Sports. Der Sport muss die Schweigemauern über dieses unangenehme Thema überspringen. Die Folgen sind für die Betroffenen ein Leben lang erdrückend und einschneidend.“
Im August hatte der viermalige Wassersprung-Europameister Jan Hempel (51) das Thema mit seinen Missbrauchsvorwürfen in einer ARD-Doku in den Fokus gerückt. Die Studie befasst sich nun umfassender mit der Problematik.
Die Betroffenen erlebten den Missbrauch demnach überwiegend im Leistungssport und wettkampforientierten Breitensport, seltener im Freizeitsport und Schulsport. Zwei Drittel der Betroffenen waren sexualisierter Gewalt nicht nur einmal, sondern regelmäßig und zum Teil über einen langen Zeitraum ausgesetzt.
In den meisten Fällen handelte es sich um (schwere) sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Die Tatpersonen stammten vorwiegend aus dem direkten oder nahen Umfeld: männliche Trainer, Betreuer oder Lehrer. Zudem befanden die Tatpersonen sich meist in machtvollen Positionen. Fast ein Fünftel der ausgewerteten Berichte bezieht sich auf sexualisierte Gewalt im Rahmen des Sports in der DDR.
Ein wesentliches Ziel der Studie sei es, Betroffenen „Gehör zu verschaffen“, wie es Bettina Rulofs als leitende Autorin der Studie sagte. Die Professorin der Sporthochschule Köln beschränkte sich in ihrer Arbeit aber nicht nur auf Fallstudien und die Entstehungsbedingungen von sexualisierter Gewalt im Sport.
Rulofs und die Unabhängige Kommission stellten klare Forderungen an den organisierten Sport. „Was eindeutig noch fehlt, ist das Bekenntnis zur Aufarbeitung von vergangenen Übergriffen, aber auch von aktuellen Vorfällen“, sagte sie. Die Verbände bräuchten dafür externe Unterstützung, beispielsweise durch das geplante Zentrum für Safe Sport.
Der Verein Athleten Deutschland forderte in einer ersten Reaktion, das Zentrum mit Kapazitäten für die Aufarbeitung auszustatten und Aufarbeitungsprozesse im Sport verbindlich zu machen. Der Weg zu dessen Einrichtung ist aber noch weit, bei allen Bekenntnissen von Bund, Ländern und aus dem Sport. Eine Kernfrage ist dabei die Finanzierung.
Rulofs nahm vor allem den Sport in die Pflicht. „Die Verbände, insbesondere der DOSB als Dachverband, müssen sich hinter so ein Zentrum stellen und es bedingungslos unterstützen“, sagte sie: „Der DOSB hat sich dazu geäußert, dass er sich nicht an der Finanzierung beteiligen möchte. Das ist eine Aussage, die für viele Betroffene wirklich schwierig zu verarbeiten ist.“
Tina ist inzwischen erwachsen, sieht sich als „stark und selbstbewusst“. Mit den Folgen ihres Missbrauchs hat sie trotzdem noch zu kämpfen. Sie leide unter Flashbacks, Panikattacken und Dissoziationen, habe durch die damalige ständige Bewertung ihres Körpers durch den Trainer eine Körperempfindungsstörung entwickelt.
Ein wenig Gerechtigkeit hat sie aber erfahren. Ihr ehemaliger Trainer wurde zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt.
SID re mh