Seit über einem Jahrzehnt ist Rot-Weiss Essen, der Deutsche Meister von 1955, nicht mehr auf Deutschlands Profifußball-Karte zu sehen gewesen. Die Chance, dass sich dies ändert, war wohl in den letzten Jahren nie so groß wie in der Saison 2020/2021. RWE führt [url=/fussball/regionalligawest-2021-spieltag.html]die Tabelle[/url] der Regionalliga West an. Noch mehr: Die Mannschaft von Christian Neidhart ist noch ohne Niederlage und zu einem DFB-Pokal-Schreck geworden. Essen ist als einziger Vierligist noch im Achtelfinale vertreten. [article=508875]Gespannt wartet man an der Hafenstraße auf die Auslosung am 3. Januar 2021[/article].
Diese Fakten, die Erfolge im Jahr 2020, sind für die leidgeprüfte Essener Anhängerschaft kaum zu glauben. Die Fans träumen wieder. [article=508878]Nach dem Weiterkommen gegen Fortuna Düsseldorf[/article] versammelten sich an der Hafenstraße rund 200 RWE-Anhänger, um der Mannschaft ihren Dank auszusprechen, sie für das im Jahr 2020 Geleistete zu feiern. Als die Mannschaft aus den Katakomben des Stadion Essens herauskam, sangen die Fans: "Der RWE ist wieder da." Dies trifft es wohl auf den Punkt. Der RWE ist wieder da - der schlafende Riese öffnet nach vielen Jahren im Tiefschlaf langsam wieder seine Augen.
Die Macher des Erfolgs: Uhlig und Nowak treffen goldrichtige Entscheidungen
Dabei begann das RWE-Jahr 2020 gar nicht so viel versprechend. Erst das Trainingslager in Spanien, das eigens dafür gebucht wurde, um in der Rückrunde noch einmal anzugreifen und an den SV Rödinghausen heranzukommen. Kurz nach der Spanien-Reise gab es ein 0:2 im Topspiel gegen Rödinghausen. Ernüchterung, Enttäuschung in Essen. Mal wieder. Wenige Wochen später brach schon die Corona-Pandemie in Deutschland aus. Und bei RWE begannen die Diskussionen um Trainer Christian Titz.
Diese Personalie wurde allen voran unter den Fans heiß diskutiert, kaum ein Anhänger konnte die Entlassung des bei den Fans beliebten "Big Titz" nachvollziehen. Am Ende des Tages müssen jedoch die RWE-Verantwortlichen um Vorstandsboss Marcus Uhlig und Sportchef Jörn Nowak sowie der Aufsichtsrat im Hintergrund um André Helf und Co., den Kopf für die Entscheidungen hinhalten.
Kurz nach der Titz-Entlassung mussten Uhlig und Co. auch einige Tage einiges aushalten und sich negative Kritik anhören. Letztendlich sind die Verantwortlichen, im Gegenteil zu den Fans, diejenigen, die am besten über das Verhältnis des Trainers zur Mannschaft informiert sind. RWE musste diesen Schritt gehen, [article=489132]weil das Verhältnis zwischen Trainer und Mannschaft zerrüttet war[/article]. Die Entscheidung der Verantwortlichen sollte sich auch als goldrichtig erweisen.
Neidhart beweist, dass er nicht nur Meppen kann
Christian Neidhart wurde nach sieben Jahren beim SV Meppen nach Essen gelockt und lieferte sofort ab. Niederrheinpokal-Sieg und das Weiterkommen gegen Arminia Bielefeld. Er wollte sich und allen Fußball-Experten zeigen, dass er nicht nur mit dem SV Meppen erfolgreich sein kann. Und das bewies der 52-jährige Fußballlehrer eindrucksvoll, der als RWE-Coach immer noch ungeschlagen ist.
Dabei legte RWE einen Stotterstart hin und nach dem 1:1 gegen Wiedenbrück und dem knappen 3:2 gegen Ahlen kamen auch schon die ersten kritischen Stimmen. Plötzlich hieß es aus Fan-Kreisen, dass Daniel Davari kein guter Torwart sei, dass Simon Engelmann bei RWE nichts reißen werde - und: dass Christian Neidhart der falsche Trainer sei. Typisch RWE. Denn der Geduldsfaden der Essener Fans ist nach jahrelangen Enttäuschungen bekanntlich sehr kurz. Kaum vorstellbar, was los gewesen wäre, wenn an den ersten beiden Spieltagen über 10.000 RWE-Fans diese beiden Begegnungen gegen Wiedenbrück und Ahlen im Stadion verfolgt hätten. Kurzum: In Essen hätte im Fan-Umfeld schon der Baum gebrannt.
Trainer, Mannschaft, Verantwortliche sind von ihrem Weg überzeugt
Die RWE-Fans können Fluch und Segen sein. An den ersten beiden Spieltagen wären sie wahrscheinlich Ersteres gewesen. Mittlerweile, auf der Welle der Euphorie, wären die Fans der 12. Mann - ein wahrer Segen für die Neidhart-Elf, die womöglich noch stärker auftrumpfen würde.
Dass diese Essener Mannschaft so stark ist, hat vielerlei Gründe. Neidhart konnte eine Achse aus erfahrenen Spielern bilden, die die Mannschaft führt. Torwart Daniel Davari strahlt Ruhe aus, rettet sogar Siege. Die Abwehr um Chef-Verteidiger Alexander Hahn steht. Im Mittelfeld geben die erfahrenen Leader Marco Kehl-Gomez und der bei Titz schon aussortierte Dennis Grote - vielleicht DER Spieler der Hinrunde - den Ton an. Und da wäre noch ein Torjäger - 20 Spiele, 18 Tore - namens Simon Engelmann. Nicht zu vergessen: In dieser Mannschaft gibt es keine Stinkstiefel. Neidhart hat es geschafft - wohl die größte Herausforderung - auch die Akteure, die nur auf der Bank oder Tribüne sitzen, bei Laune zu halten. Er hat eine echte Einheit geformt, die alles dem großen, gemeinsamen Aufstiegsziel unterordnet. Die besten Argumente für Aufstellungen, Kadernominierungen sind, wie Neidhart gerne betont: Siege.
Natürlich ist der Trainer derjenige, der die Marschroute vorgibt. Aber noch einmal zurück zum Stotterstart: Hier war wichtig, dass Neidhart, die Mannschaft, Uhlig und Nowak ruhig geblieben sind. Klar, die Kritik nervte und wurde wahrgenommen, wie jüngst Uhlig und Nowak im [article=508336]RevierSport-Doppelinterview[/article] betonten. Aber keiner der Funktionäre, der Spieler ließ sich vom gemeinsamen Weg abbringen. Der Weg, von dem alle bei RWE überzeugt sind, soll den Verein nach über zehn Jahren wieder in den Profifußball führen. Die große Sehnsucht des Umfeld nach Erfolgen, nach Profifußball soll gestillt werden. Und vielleicht wird Ende Mai an einer ausverkauften Hafenstraße wieder laut gesungen: "Der RWE ist wieder da." Schließlich dürfen die Rot-Weiss-Fans nach diesem spektakulären Jahr 2020 endlich wieder träumen.