Im Internet brach wieder mal die Hölle los. Julian Brandt, der Hochtalentierte mit dem Brandzeichen „schlampiges Genie“, hatte für Borussia Dortmund bei Bayer Leverkusen recht läppisch ein Gegentor verschuldet, er war arg zaghaft in einen Zweikampf gegangen. Hunderte Tweets gingen in dieselbe Richtung: „Das wird nie was! Hält nie seine Knochen hin! Warum spielt der überhaupt?? Raus!!!“
Es war einer dieser Momente, in denen es verlockend einfach ist, einen Shitstorm zu entfesseln - eine vermeintliche Bestätigung aller Vorurteile von Jahren, komprimiert in einer Szene. Julian Brandt, der zerbrechliche Begnadete, der dich auf jedem staubigen Schulhof mit einer Coladose schwindlig spielt, aber dann die anderen Kids zurück zum eigenen Tor laufen lässt.
Zum Glück stand es erst 1:2, und es war erst Halbzeit. Nach der Pause benötigte Brandt vier Minuten, um alle Kritiker halbwegs verstummen zu lassen: Er nahm den Ball nach einem Pass von Erling Haaland in vollem Lauf sensationell mit, kurz schien er ihn gar mit der Hacke unter die Pobacke zu klemmen, dann knallte er ihn zum 2:2 ins Tor. Später beendete Brandt das letzte Leverkusener Aufbäumen in der Nachspielzeit mit einer Grätsche.
Wie fügt sich dieses Spiel nun in die Erzählung ein? „Ich mag Jule. Wir sind froh, dass wir ihn haben“, sagte BVB-Trainer Marco Rose: „Er ist einfach ein richtig guter Fußballer, der in die Welt passt.“ Allerdings gehöre Brandts Ballverlust vor dem 1:2 auch zur Wahrheit: Es gebe diese Dinge, „an denen wir weiter mit ihm arbeiten“.
Bisher hat es noch kein Coach vermocht, die zweifellos in dem Nationalspieler schlummernde Weltklasse dauerhaft herauszukitzeln. Es wäre Roses erstes Meisterstück in Dortmund, sollte es gelingen. Der neue Trainer jedenfalls lobt Brandts Qualitäten - „auf der Zehn, auf der Sechs, auf der Acht“.
Diese Variabilität hat mit dazu beigetragen, dass Brandt bisher keinen Stammplatz erobert hat. Er kann überall jederzeit hineingeworfen werden, als genialer Gadget-Spieler, in der Hoffnung auf eine große Sekunde. Festgespielt hat er sich nirgends. Das soll sich mit dem Start in die Champions League nun endlich ändern.
„Für mich hat es sich extrem gut angefühlt“, sagte Brandt bei Sport1. „Gerade nach der letzten Zeit genieße ich solche Momente. Mein Tor war auch ein Stück weit Wiedergutmachung. Es war erlösend, weil ich mich über einige Situationen in der ersten Hälfte geärgert hatte.“ Das schrieb er auch bei Instagram und postete dazu ein Foto seines Jubelschreis.
Zur erwähnten „letzten Zeit“ gehören auch eine COVID-19-Erkrankung, die den 25-Jährigen nochmals zurückgeworfen hatte, und die Tatsache, dass er nicht im deutschen EM-Kader stand. Immerhin: Im Internet ist ihm dadurch wohl einiges erspart geblieben.