Die Rollen spielerisch wechseln zu können, ist für Hans-Joachim Watzke dieser Tage ein Geschenk. Ausschließlich in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der DFL spricht der Boss von Borussia Dortmund über den neuen Trainer des FC Bayern. „Für die Liga sagen wir: Willkommen zurück, Thomas Tuchel!“, sagte Watzke dem SID, und er wiederholte das fast wortgleich im SZ-Interview.
Auch vor dem spannendsten Bundesliga-Gipfel seit vielen Jahren am Samstag (18.30 Uhr/Sky) gilt das Verhältnis der Alphatiere als kompliziert - trotz einer Aussprache. Watzke und Tuchel haben sich nach dem Bombenanschlag auf die BVB-Mannschaft vor sechs Jahren entzweit: Eine sehenswerte Sky-Doku (ab 10. April), die dem SID vorliegt, bietet neue, teils dramatische Einblicke.
„Ich glaube, da ist zwischen dem Trainer und mir einiges kaputtgegangen“, erzählt Watzke darin, er fährt sich nachdenklich übers Gesicht. „Das wäre wahrscheinlich sonst nicht zur Trennung im Sommer gekommen. Zu glauben, dass so eine Zäsur nichts auslöst...“, sagt er - und lässt diesen Satz auslaufen.
Als am 11. April 2017 der BVB-Bus im Stadtteil Höchsten vom Hotel L'Arrivee aus zum Champions-League-Viertelfinale gegen die AS Monaco losfährt, ist Tuchel an Bord, Watzke nicht - der „Dissens“, den Watzke später in einem aufsehenerregenden WAZ-Interview einräumen wird, hat seinen Ursprung wahrscheinlich darin. Der Attentäter Sergej W. zündet in einer Hecke drei Sprengsätze, die mit Metallstiften bestückt sind, er hat auf einen Sinkflug der BVB-Aktie gezockt.
Danach ist nichts mehr wie vorher.
Marc Bartra ist am Arm verletzt und kämpft gegen die drohende Ohnmacht, ein Bolzen ist sogar in eine Kopfstütze eingeschlagen. Es hätte Tote geben können.
Zehn Kilometer entfernt weiß Watzke zunächst nicht, was los ist. „Ist das ein isolierter Anschlag - oder kommt noch was? Wir hatten natürlich unfassbare Angst“, sagt er in der Doku. „Jeder zweite Gedanke, den ich fassen konnte in dieser Phase, war: Wenn da gleich was hochgeht und da sterben Leute, das ist ein Desaster.“
Er spricht auf dem Rasen später beruhigend zu den Zuschauern, berichtet, dass auch Tuchel „natürlich geschockt war. Eine Explosion war direkt auf seiner Seite.“
Zügig muss sportlich gehandelt werden: Die UEFA macht Druck. „Es gab (...) nur diese eine Wahrheit: Entweder spielen wir am nächsten Abend oder wir ziehen zurück.“ Und, so schildert es Watzke, auf subtile Art schiebt sanft auch die Politik bis hoch zur Kanzlerin: Es wäre doch schön, wenn man sich nicht dem Terror beugen müsste.
Gespielt wird dann auch, die schockierten Profis kriegen kaum den Ball gerade gepasst, Sven Bender unterläuft beim 2:3 ein Eigentor. Anschließend beklagt sich Tuchel öffentlich: „Wir hatten uns mehr Zeit gewünscht, um das zu verarbeiten. Wir haben sie nicht bekommen.“ Er und die Mannschaft seien nicht gefragt worden. Nuri Sahin sagt: „Fußball war mir an diesem Tag scheißegal.“ Schließlich habe er 24 Stunden zuvor noch gedacht, es würden Terroristen den Bus stürmen und Spieler „erschießen“.
Watzke ist irritiert. Nach Ansicht der Vereinsführung hätte es jederzeit die Chance gegeben, nach oben zu melden, das Spielen sei nicht gewünscht. Tuchel, so erscheint es ihm wohl, spreche mit doppelter Zunge. Ein schwelender Konflikt - der Trainer hatte sich mit Chefscout Sven Mislintat überworfen - frisst sich tiefer. Der Bruch ist nicht mehr zu kitten.
„Eine Halde zerbrochenen Porzellans“, so beschreibt es die Sportschau im Rückblick: Die Trennung von Tuchel nach dem Pokalsieg sei damals „so überraschend wie der Sonnenaufgang am 30. Mai“ gekommen. Am Samstag bringe die Personalie Tuchel für das ohnehin aufgeladene Gipfel-Duell „Brisanz im Quadrat“.