Spätestens beim TV-Interview seines mächtig verärgerten Chefs dürfte Jesse Marsch zu Hause in der Corona-Quarantäne gewusst haben, was die Stunde geschlagen hat. „Desolat“, katastrophal„, “beschissen„ - Geschäftsführer Oliver Mintzlaff nahm nach dem blutleeren Auftritt von RB Leipzig bei Union Berlin kein Blatt vor den Mund. Bei der Trainerfrage wich er jedoch aus - und das war für den abwesenden Marsch kein gutes Zeichen.
„Wir müssen jetzt analysieren und uns Gedanken machen, und da gehört natürlich alles auf den Tisch“, sagte Mintzlaff bei DAZN ausweichend. Sogar ein Trainerwechsel noch vor der Winterpause scheint nach dem verdienten 1:2 (1:1) in Berlin - der dritten Bundesliga-Niederlage in Folge - nicht mehr ausgeschlossen.
„Wir werden jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken und bis Weihnachten warten und hoffen, dass es im neuen Jahr irgendwie besser wird“, betonte der RB-Boss. Man werde intern „knallhart analysieren“, denn: „So erreichen wir unsere Ziele nicht.“ Die Champions-League-Plätze sind mit einer Aufholjagd in der Rückrunde noch immer möglich - aber auch mit Marsch?
Marsch und Co-Trainer Beierlorzer positiv auf Corona getestet
Der Chefcoach, der genau wie Co-Trainer Achim Beierlorzer positiv auf Corona getestet und deshalb in Berlin von seinem zweiten Assistenten, Marco Kurth, vertreten wurde, hatte die entscheidende Frage bei einem Videocall unter der Woche selbst gestellt: „Ist es eine Möglichkeit, dass es nicht genau passt?“ Seine Antwort: „Ja, das müssen wir hinterfragen.“
Dass der US-Amerikaner für die enormen Leistungsschwankungen des Teams keine Erklärung findet, geschweige denn Lösungen, spricht nicht für ihn. Der Nachfolger von Julian Nagelsmann wollte wieder etwas weg vom Ballbesitz hin zum RB-typischen Überfallfußball - doch nach einem halben Jahr lässt sich kein klares taktisches Konzept erkennen.
Im Schneetreiben von Berlin zockten Christopher Nkunku und Co. uninspiriert vor sich hin, während die Unioner als geschlossene Truppe mit Leidenschaft und Dynamik auftraten. Der Lohn: Vorübergehend Champions-League-Rang vier mit fünf Punkten Vorsprung auf RB. „Der Tabellenplatz ist nur eine Momentaufnahme“, wiegelte Trainer Urs Fischer ab.
Überragender Kader, der zu wenig liefert
Mintzlaff, der Marsch im vergangenen Sommer unbedingt vom Schwester-Klub aus Salzburg verpflichten wollte, sucht die Schuld auch bei den Spielern. Man habe einen „überragenden Kader“, der momentan „zu wenig“ liefert.
Das dürften die mitgereisten Fans den Spielern nach dem Abpfiff in der Alten Försterei auch an den Kopf geworfen haben. Kapitän Peter Gulacsi zeigte Verständnis für den Ärger. An den vielen auch coronabedingten Ausfällen habe es nicht gelegen, meinte der Torhüter: „Wir haben auf dem Platz genug Qualität gehabt.“
Auch den Fakt, dass in Kurth der nominell dritte Trainer an der Seitenlinie stand, wollte Gulacsi nicht als Ausrede gelten lassen. „Unser Trainer kann kein Tor schießen und keine Standards verteidigen“, sagte er: „Es liegt an uns Spielern.“
Die aktuelle Phase ist die wohl schwerste Krise in der noch jungen Bundesliga-Geschichte von RB. „Die Fans, die Spieler, die Mitarbeiter, die Partner, die Sponsoren - alle kennen nur den Weg nach oben“, beschrieb es Mintzlaff. Die aktuelle Talfahrt könnte Marsch zum Verhängnis werden.