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Der EM-Blog (Teil 6)
Durch die Nacht mit Türkiye

Der EM-Blog (Teil 6): Durch die Nacht mit Türkiye
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Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da, dachte sich Blogger Ralf Piorr, zog seine Schlafanzughose aus und die Jeans wieder an und mischte sich unter die Fußball-Verrückten auf der Straße.

Meine Heimatstadt Herne ist eine ruhige Stadt. Abends um sieben Uhr werden die Bürgersteige hochgeklappt und das Nachtleben verschwindet in den Untergrund, genauer gesagt in die U-35 Richtung Bochum. So ist es meistens, aber nicht immer, schon gar nicht zur EM und wenn die Türkei gewinnt. Schon das türkische Siegtor in der 92. Minute läßt einen orgiastischen kollektiven Schrei aus den Wohnungen, Spielotheken und Cafés durch die leergefegten Straßen hallen und nur wenige Minuten später dröhnt lautes Autohupen durch die Stadt. An Nachtruhe ist nun eh nicht mehr zu denken. Und was macht ein unermüdlicher und nachteulengleicher EM-Blogger angesichts dieser Sachlage? Na klar, er mischt sich unter das Volk.

Türkische Fans nach dem Spiel gegen die Schweiz, Herne, irgendwann in der Nacht.

Über hundert Jugendliche und Kinder wild die türkische Flagge schwenkend und „Tür-ki-ye! Tür-ki-ye!“ in die Nacht skandierend ziehen durch die Innenstadt, ab und an mimen drei bis vier PKWs einen Autokorso, wie gesagt: Herne ist nicht Köln-Ehrenfeld! Rundherum schauen die Ordnungshüter sehr streng in die Nacht, greifen aber nicht ein und lassen die Fans gewähren. „Jetzt spielen wir gegen die Deutschen!“, schreit mir ein Jugendlicher ins Ohr. Ich erspare mir den Hinweis, dass da vorher noch die Tschechen zu schlagen wären. Wer will schon eine Spaßbremse sein? „Gut, das wir wenigstens jetzt einmal feiern können“, sagt ein anderer und schenkt mir eine Zigarette. „Es wäre richtig Scheiße gewesen, sang- und klanglos auszuscheiden.

Den Spott von Euch hätten wir uns wochenlang anhören müssen“, fügt er mit einem Grinsen hinzu. „Euch“ bin „Ich“, ach nein, sind „Wir“, oder wer auch immer. Jemand bittet mich, unbedingt seinen Bruder zu fotografieren. Ein bisschen ängstlich schaut der Kleine in seinem Fenerbahce-Trikot unter seiner etwas zu großen Türkei-Mütze hervor. „Es ist sein erster Sieg bei einem großen Turnier und das erste Mal ist er mit auf der Straße“, erklärt mir der Große, der sich flugs zum Foto Tet-à-Tête eine Türkeiflagge geborgt hat.

Nach einer halben Stunde verläuft sich die Begeisterung etwas. An einem Café stehen einige ältere Männer vor der Tür, die das Treiben schmunzelnd beobachten. Ich stelle mich zu ihnen, und flugs drückt man mir ein Flaschenbier in die Hand. „Ist okay, oder?“, fragt mich einer. Ich erfülle ohne nennenswerten Protest das Klischee. Wir quatschen über das Match, über den guten Start der türkischen Elf und den Regen, der für sie fast alles zunichte gemacht hätte.

„Man mag es kaum glauben, aber die Schweizer konnten besser schwimmen“, kommentiert jemand lakonisch. „Und was kommt jetzt?“, frage ich in die Runde. „Nichts“, bekomme ich zur Antwort, „in einer halben Stunde sind alle wieder zu Hause, gehen morgen zur Arbeit oder zur Schule und warten auf das nächste Spiel.“ Gemeinsam nicken wir, wie Männer eben bei der Feststellung unumstößlicher Tatsachen zu nicken pflegen. Noch einmal macht eine Schachtel Zigaretten die Runde. Ich rauche, trinke mein Bier aus, während die anderen auf Türkisch weiter reden. Schließlich bedanke ich mich und gehe nach Hause. „Schreib was ordentliches“, ruft mir einer hinterher. Ich nicke.

Gegen halbeins verstummt das letzte Hupen auf der Straße und das Türkiye in meinem Kopf. Ich bekomme Mitleid mit der Schweiz und sehe mich zu einem Nachtrag genötigt:

P.S. Wer hat’s erfunden?

Die Schweizer haben die Haselnussschokolade, Ricola Kräuterbonbons, die erste Taschenuhr mit Selbstaufzug, den Seidenwebstuhl, die Fahrradkette, den Explosionsmotor für Automobile, den Suppenwürfel, das Insektenvernichtungsmittel DDT, das Alphorn, die protestantische Ethik, den Bleistift, das Fondue, den Absinth, den Würfelzucker, das Rote Kreuz, den Zwieback, LSD, die Kartoffelchips, die Fettabsaugung, die elektrische Zahnbürste und vieles mehr erfunden. Aber das Glück im Fußball, das haben sie sicher weder erfunden noch gepachtet. Am Anfang war es der Regen, der den St. Jakob-Park in Basel überflutete, am Ende waren es die Tränen der Eidgenossen.

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