„Spitzenreiter, Spitzenreiter hey, hey“, schallte es aus 10.200 Kehlen an der legendären Essener Hafenstraße. Rot-Weiss Essen war nach dem 1:0-Sieg gegen den Bonner SC am 31. August 2018 Tabellenführer der Regionalliga West, hatte mit 15 Punkten aus sechs Spielen einen nahezu perfekten Start hingelegt. Und die Fans träumten.
Nur fünf Spieltage später: 30.?September 2018, 10.000 Fans an der Hafenstraße, Schlusspfiff gegen Alemannia Aachen. 0:1. Der Rückstand auf Tabellenführer Viktoria Köln beträgt mittlerweile zehn Punkte. Und die Fans sind schockiert.
Rot-Weiss Essen, Deutscher Meister von 1955, Bundesligist bis 1977, befindet sich im achten Jahr in der 4. Liga und kommt einfach nicht voran. In dieser Saison, in der der Regionalliga-West-Meister erstmals ohne Relegation in die 3. Liga aufsteigen darf, will RWE angreifen. Sieben Spieltage lang sah es tatsächlich vielversprechend aus. Die Bilanz der jüngsten Begegnungen aber ist verheerend: zwei Unentschieden, drei Niederlagen.
„Du musst konstant gut spielen“
Es ist Herbst, und wieder scheinen sich die Fans von Rot-Weiss Essen frühzeitig von ihren Träumen verabschieden zu müssen. Eine große Chance auf eine Wende zum Guten besteht aber noch: Am Samstag (14?Uhr) kommt Spitzenreiter Viktoria Köln nach Essen. Für RWE ist das ein Endspiel. Ein Sieg könnte einen neuen Ruck geben, könnte für neue Motivation sorgen. Eine Niederlage aber wäre ein schwerer Rückschlag, der in dieser Saison wohl kaum noch wiedergutzumachen wäre.
Stefan Lorenz hat bessere Zeiten an der Hafenstraße erlebt. Der heute 37-Jährige gehörte 2005/2006 der letzten Zweitliga-Aufstiegsmannschaft von RWE an. „Wenn du aufsteigen willst, dann kannst du nicht an der Hafenstraße aus zwei Spielen gegen Mannschaften wie Lippstadt und Straelen nur einen Punkt holen – bei allem Respekt für diese Klubs“, sagt er. „Du musst eine konstant gute Saison spielen, nach Niederlagen aufstehen. Das ist RWE zuletzt leider nicht gelungen.“ Auch er betont: „Das Heimspiel gegen Viktoria Köln ist immens wichtig.“
Ein Ärgernis für die Essener ist, dass sich die Mannschaft in dieser Saison vor allem in den Heimspielen schwer tut. Drei Siege, ein Remis, zwei Niederlagen sind bei einem Zuschauerschnitt von 9500 Fans pro Partie eine dürftige Ausbeute. „Wenn wir oben mitspielen wollen, dann muss unser Stadion zu einer Festung werden. Die Fans sind für die Spielklasse einzigartig. Sie sind unser Faustpfand“, hatte Jürgen Lucas, der Sportliche Leiter von RWE, schon vor der Saison gesagt. Doch jetzt muss man konstatieren: Das Stadion in Bergeborbeck wird nicht zum Problem für die Gegner, sondern für die Heimmannschaft.
Die Gegner haben keine Angst
„Wenn wir nach Essen fahren, muss uns niemand motivieren. Für solche Spiele sind wir aufgestiegen. Dieses Ambiente ist für einen Viertligaspieler einmalig in Deutschland“, sagte Daniel Berlinski, Trainer des SV Lippstadt – bevor sein Team mit 3:2 gewann. Auch der nächste Gegner freut sich schon auf die Hafenstraße. „Ich habe gehört, dass in Essen eine super Stimmung herrschen soll. Ich bin gespannt“, sagt Viktoria Kölns Christian Derflinger, der vor der Saison aus Fürth in die Domstadt gekommen war.
Warum kann RWE, das mit über 4000 verkauften Dauerkarten den Bestwert aller Viertligisten in Deutschland vorweist, aus dem Faustpfand Fans keinen Profit schlagen? In Essen sind nur die Fans aufstiegsreif, die Mannschaft scheint diesem Prädikat auf Strecke nicht gerecht werden zu können. „Wir haben eine richtig gute Mannschaft, die zuletzt viel Pech hatte“, kontert Marcel Platzek und erklärt: „Verletzungen, Rote Karten, fehlendes Spielglück, da kam einiges zusammen.“ Der Stürmer, der in den vergangenen fünf Jahren immer der erfolgreichste RWE-Torschütze war, fehlte wochenlang aufgrund eines Haarrisses im Sprunggelenk. Ebenso wie Rechtsaußen Kai Pröger, der wohl schnellste Spieler der Regionalliga West. Zwei Ausfälle, die das Team nicht verkraften konnte. Immerhin: Beide sind gegen Viktoria Köln wieder dabei.
Das Ziel ist klar: Jetzt zählen nur noch Siege. Torjäger Platzek macht den Fans weiter Hoffnung: „Die Saison ist noch lang, und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir zurückkommen werden.“
Autor: Krystian Wozniak