Stefan Kuntz bangt, hofft, er leidet mit. In Istanbul verfolgt der deutsche Trainer der türkischen Fußball-Nationalmannschaft die Nachrichten aus dem Katastrophengebiet - und kann all das Leid kaum fassen. „Die Tragödie ist riesengroß“, sagt Kuntz im SID-Gespräch über die vielen Opfer des furchtbaren Erdbebens in der türkisch-syrischen Grenzregion.
„Ich kann all das kaum begreifen“, sagte der frühere Nationalspieler: „Dadurch, dass man die Schicksale der vielen Menschen öffentlich verfolgen kann, ist meine Betroffenheit riesengroß.“ Kuntz' Gedanken kreisen unentwegt um die nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zu 23 Millionen Betroffenen.
„Man muss sich die Lage vieler Opfer so vorstellen: Du bist eingeschlossen unter den Trümmern, kannst mit dem Handy ein Video von Dir drehen oder den Standpunkt schicken. Du kannst schreien, sagen oder schreiben: “Hier steigt das Wasser', 'Es bricht über mir zusammen' oder 'Ich bekomme immer weniger Luft'„, sagte Kuntz: “Aber die Rettungsleute kommen erst gar nicht bis zu Dir. Es ist das Dramatische, dass Eingeschlossene oder Begrabene verzweifelt Hilferufe absetzen und man genau weiß, wo sie sind, man aber auch aufgrund der Witterungsverhältnisse keine Chance hat, überall schnell hinzukommen. Man schaut jetzt, noch so viel zu retten, was noch zu retten ist.„ Seine Anerkennung und sein Respekt, das betont Kuntz, “gilt allen Rettungskräften und Helfern, die alles menschenmögliche versuchen„.
Zu spät kam die Hilfe für Zweitliga-Torhüter Ahmet Eyüp Türkaslan. Der 28 Jahre alte Schlussmann von Erstliga-Absteiger Yeni Malatyaspor konnte am Dienstag nur noch tot aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen werden. „Ruhe in Frieden. Wir werden dich nie vergessen, du großartiger Mensch“, schrieb sein Klub in den sozialen Netzwerken.
Immerhin gab es auch gute Nachrichten: Mit Christian Atsu ist ein zuvor als vermisst geltender Fußball-Profi vom türkischen Erstligisten Hatayspor lebend unter den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes geborgen worden. Auch die türkischen Nationalspieler sind „glücklicherweise nicht betroffen“, sagte Kuntz: „Meinen Trainerkollegen aus den betreffenden Regionen habe ich Nachrichten geschickt, der türkische Fußballverband hat ein Spendenkonto eröffnet, die Hilfsaktionen laufen an. Auch wir als Nationalmannschaft beteiligen uns.“
Dennoch wird der Sport in den kommenden Tagen in der Türkei komplett ruhen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat eine einwöchige Staatstrauer angeordnet. Alle Fußballspiele sind abgesagt, damit sich jeder um Familienangehörige und Freunde kümmern kann.
Weitere Folgen für den Sport sind laut Kuntz, der die deutsche U21-Nationalmannschaft 2017 und 2021 zum EM-Titel geführt hatte und seit September 2021 für den türkischen Fußballverband arbeitet, noch gar nicht abzusehen: „Nehmen Sie die Klubs Hatayspor oder Gaziantep: Können die überhaupt noch die Saison weiterspielen? Das sind Fragen, die noch gar nicht auf dem Tisch sind, weil es aktuell nur darum geht, Menschenleben zu retten.“