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Interview: Ralf Rangnik über Taktik, Fußballprofessoren und Schalke gegen Barcelona
"Es gibt riesigen Nachholbedarf"

Interview: Ralf Rangnik über Taktik, Fußballprofessoren und Schalke gegen Barcelona
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Als er vor zehn Jahren im »Aktuellen Sportstudio« die Taktik eines Spiels analysierte, wetterten die Traditionalisten. Heute gilt Ralf Rangnick als Vordenker. Wir sprachen mit ihm über alte Helden, den Fußball von morgen und Louis de Funès.

Zurück zur Taktik: Befassen Sie sich eigentlich mit historischen Systemen?

Als junger Trainer, Anfang der 80er Jahre, bin ich natürlich durch einige alte Systeme fußballerisch sozialisiert worden. Doch heute schaue ich mir Spiele von früher nicht an, um zu lernen, sondern eher zur Belustigung (lacht). Als Trainer sollte man sich immer am Status quo orientieren und von da aus weiter denken.

Wie kann man sich dieses Weiterdenken in Hoffenheim vorstellen?

Wir haben etwa einen hauptamtlichen Mitarbeiter, der sämtliche Champions League-Spiele und Länderspiele aufzeichnet und bestimmte Spielzüge und systematische Auffälligkeiten zusammenschneidet. Mit einer derartigen Weltstandsanalyse versuchen wir immer up-to-date zu sein.

Nehmen wir als Beispiel einmal das Champions League-Hinspiel Schalke gegen Barcelona: Welche Lehren konnten Sie in der Videoanalyse aus dieser Partie ziehen?

In diesem Spiel konnte man sehr schön erkennen, wie Barcelona bei eigenem Ballbesitz die ganze Fläche des Feldes nutzte. Das war der große Unterschied zu Schalke. Natürlich werden einige sagen, dass der FC Barcelona die besseren Individuellen im Team hat. Aber das führt ja nicht zwangsläufig zu einem erfolgreichen Spiel. Die Barca-Spieler sind einfach taktisch besser geschult. Analog dazu haben die Spieler der Premier League, die Fußballer von Arsenal oder Liverpool, den One-Touch-Fußball nicht automatisch im Blut, sie erlernen ihn dort systematisch – als Beispiel kann man Alexandr Hleb nennen. Diese Art, Fußball zu spielen, wird in verschiedenen Spielformen ständig trainiert und wiederholt. Natürlich erzielt man die besten Lernfortschritte mit solchen Spielern, die auch technisch dazu in der Lage sind. Aber mir kann niemand erzählen, dass wir in Deutschland nicht auch über solche Spieler verfügen.

Sind solche Videos Lernmaterial für den Trainerstab, oder zeigen Sie die Videos auch der Mannschaft?

Teilweise zeigen wir sie natürlich auch der Mannschaft. Wir versuchen zugleich, dieses Material mit Spielszenen unserer Mannschaft anzureichern, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben. Wir zeigen in der Kabine keine Szenen, in denen ein Spieler von uns über den Ball tritt oder wegen eines Platz- oder Stockfehlers eine hochkarätige Chance versiebt. Ich rede mit dem Spieler darüber allerhöchstens noch mal unter vier Augen. Für mich ist Videoarbeit nach dem Spiel ein sehr wichtiges Mittel zur Leistungsoptimierung. Wir erörtern die Fragen: Was haben wir systematisch gut gemacht? Was haben wir systematisch nicht so gut gemacht?

Was haben Sie denn vor zehn Jahren, als Sie Trainer in Ulm waren, anders oder nicht so gut gemacht?

In Ulm haben wir unser Training so ausgerichtet, dass wir 70 Prozent gegnerischen und 30 Prozent eigenen Ballbesitz trainierten. Die Idee des Trainings bestand also darin, das Spiel gegen den Ball zu perfektionieren. Wir gingen davon aus, dass darin unsere einzige Chance besteht, die zweite Liga zu halten. Wir überraschten unsere Gegner durch diese Spielweise, denn damals spielten viele Mannschaften noch mit Libero und mit einem 3-5-2-System, in teilweise totaler oder bestenfalls zonengebundener Manndeckung.

Heute trainieren Sie vermutlich vermehrt den eigenen Ballbesitz.

Richtig. Und so war es auch auf Schalke. In dem Moment, in dem das Spiel zum Stehen kommt – und das ist meistens das Ziel unserer Gegner –, gibt es bei gut organisierten Abwehrreihen kein Durchkommen mehr. Deshalb müssen die Spieler lernen, stets ein hohes Tempo zu halten und versuchen, mit viel Bewegung Lücken zu reißen. Solche Situationen wird man in Zukunft, auch dank verbesserter Videotechnik, noch viel genauer vor- bzw. nachspielen können. Und wenn die Bilder zeigen, dass der ursprüngliche Plan nicht funktioniert hat, kann man daraus wieder neue Handlungsalternativen entwickeln.

Inwiefern wird sich Ihr Training in zehn Jahren von dem heutigen unterscheiden?

Es wird sich, wie in anderen Sportarten auch, nach dem Prinzip »höher, schneller und weiter« entwickeln. Raum und Zeit, die den Spielern zum Handeln zur Verfügung stehen, werden in Zukunft noch geringer werden. Erinnern Sie sich doch nur an die WM 1954 oder 1966: Da stand etwa Garrincha einem Abwehrspieler gegenüber und keiner von beiden bewegte sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle – es sah aus wie bei einem Standbild. Heute, 42 Jahre später, ist das Spiel um ein Vielfaches dynamischer geworden. Doch wird es kaum so sein, dass in 50 Jahren die Entwicklungen einen ähnlich großen Schritt gemacht haben werden wie von 1966 bis heute. Die Entwicklungssprünge werden kleiner, denn man befindet sich in vielen Bereichen heute schon auf einem hohen Level.

Abzusehen ist aber, dass die Defensive weiter gestärkt wird.

Das mag sein. Die Defensivspieler werden auf jeden Fall athletischer und technisch noch versierter spielen. Man merkt ja schon heute, dass die Defensive mitunter einen höheren Stellenwert als früher genießt. Vor zehn Jahren wäre es jedenfalls noch undenkbar gewesen für einen Abwehrspieler 30 oder 40 Millionen Euro zu bezahlen, dafür hätte man aber andererseits von einem entsprechend teuren Stürmer in den seltensten Fällen auch nur einen Funken Abwehrarbeit verlangt.

Wird es gravierende Regeländerungen geben?

Ich kann mir vorstellen, dass durch die simple Vergrößerung der Fußballtore, der durch die Entwicklung der Defensivstrategien und der athletischen Fähigkeiten der Spieler sich abzeichnenden Verringerung der Torerfolge im Fußball entscheidend und sprunghaft entgegengewirkt werden könnte. Als Maßstab für die Vergrößerung der Torabmaße wäre die Entwicklung der durchschnittlichen Körperlänge der Torhüter von heute – also circa 1,90 Meter – im Vergleich zum Zeitpunkt der Festlegung der ursprünglichen Regeln zu Anfang des letzten Jahrhunderts – circa 1,70 Meter – heranzuziehen. Daraus ergäben sich dann Tore, die etwa einen Meter breiter und 30 Zentimeter höher sind. Das bedeutet zumindest, dass jeder Pfosten- und Lattenschuss von heute dann ein Treffer wäre.

Wird es den Videobeweis geben?

In zehn Jahren werden wir vermutlich nicht mehr über den Videobeweis diskutieren, sondern uns über die aktuelle Diskussion nur amüsieren. Auch wenn sich heute noch ein paar Traditionalisten dagegen wehren, die nächste Generation bei der FIFA wird ihn einführen. Dass der Fußball dadurch an Spontanietät verlieren würde, glaube ich überhaupt nicht, denn in anderen Ballsportarten wird er seit Jahren reibungslos angewandt. Wenn man in allen Stadien für standardisierte Kameravoraussetzungen sorgt, sollte es doch möglich sein, den Spielfluss davon unberührt zu lassen. Ich bin mir sicher: In zehn Jahren werden wir über die aktuelle Diskussion herzlich lachen.

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