Sead Kolasinac erlebte am Mittwochabend in Dublin ein Wechselbad der Gefühle. Im Finale der Europa League überzeugte der Verteidiger eine Halbzeit lang für Atalanta Bergamo mit seinem Stellungsspiel und wichtigen Balleroberungen, ehe er zur Pause passen musste. Noch vor Wiederanpfiff – sein Team führte da schon 2:0 gegen Bayer Leverkusen – signalisierte der frühere Profi von Schalke 04: Es geht nicht weiter. Angeschlagen musste er runter. Zum Zuschauen verdammt erlebte er dennoch den Titelgewinn mit den Italienern. Auf Niedergeschlagenheit folgte grenzenloser Jubel!
„Es ist unglaublich“, sagte Kolasinac nach dem Spiel. Er habe nicht gewusst, wie er mit seinen Gefühlen umgehen solle. Ähnlich schien es seinen Mitspielern zu gehen, gab er einen Einblick in die Kabine. Es sei sehr ruhig gewesen, so der 30-Jährige nach dem spektakulären Triumph. „Es ist ein historischer Triumph für den Klub und ich bin stolz, ein Teil davon zu sein“, sagte Kolasinac.
Schon kurz vor Anpfiff des Europa-League-Finales zwischen seinem Serie-A Klub und dem Deutschen Meister wirkte der 30 Jahre alte Bosnier extrem gelassen. „Natürlich, ein Europapokalfinale spielt man nicht jede Woche. Die Nervosität gehört dazu“, sagte der Ex-Schalker und wirkte dabei ganz und gar nicht nervös. Beinahe plaudernd berichtete er, dass er natürlich vorher noch Kontakt mit Leverkusens Sechser Granit Xhaka gehabt habe – beide kennen sich aus gemeinsamer Zeit beim FC Arsenal. Der Vorteil seiner Mannschaft, sagte er, sei, dass man um die Qualitäten von Leverkusen wisse – jedoch: „Auch uns hat das Finale keiner zugeschmissen, wir haben uns das hart erarbeitet und wollen das klar auch gewinnen.“
Und genau so sollte es kommen. Mit 3:0 durch einen Dreierpack von Ademola Lookman führte Atalanta Bayer nahezu vor. Von den Comeback-Qualitäten des Xabi-Alonso-Teams war diesmal nichts zu sehen.
Europapokal-Abende – damit kennt sich Sead Kolasinac aus. Schon damals, als er als aufstrebender (Außen)verteidiger seinen Durchbruch beim FC Schalke 04 schaffte, erlebte er diese besondere Atmosphäre. Von 2012 bis 2017 spielte er erstmals für die Königsblauen, in deren A-Jugend er 2011 vom VfB Stuttgart gewechselt war.
Angesichts der aktuellen Situation des FC Schalke als abgestürzter Traditionsklub, der weite Teile dieser Saison um den Abstieg aus der 2. Bundesliga fürchten musste, wirkt es wie aus Zeit gefallen, schaut man sich an, gegen wen Sead Kolasinac im Schalke-Dress so zum Einsatz kam. Es war die Zeit, in der S04 noch zu den Top-Mannschaften der Bundesliga gehörte. In der Champions League stand er in der Saison 2012/13 etwa in der Gruppenphase gegen Montpellier auf dem Platz, im Achtelfinale dann gegen Galatasaray Istanbul. Ein Jahr später folgten Gruppenspiele gegen den FC Basel und den FC Chelsea. Im Achtelfinale war dann das große Real Madrid Gegner. Das zu große, muss man sagen: Schalke verlor 1:6 und 1:3 – ein gebrauchter Abend für einen Verteidiger.
Auch bei seinen folgenden Stationen FC Arsenal, Olympique Marseille und aktuell Atalanta Bergamo spielte er auf internationalem Parkett. Zum FC Schalke kehrte er von Januar bis Juni 2021 auf Leihbasis zurück. Von Europapokalabenden war Schalke da aber schon weit entfernt: Am Ende der Saison konnte auch Kolasinac den Abstieg nicht verhindern, er kehrte nach London zurück. Insgesamt kommt er kommt auf 13 Spiele in der Champions League, 43 in der Europa League (2 Tore) und drei in der Conference League. Einen Europapokal aber, den holte er erst jetzt: mit Bergamo, gegen Leverkusen.
Die Italiener brachen damit einen langen Finalfluch. Ähnlich wie die lange als Vizekusen verpöhnten Leverkusener musste auch Bergamo einige harte Endspiel-Niederlagen verkraften. „Es würde eine Menge bedeuten, diesen Titel zu gewinnen. Hier wurde die letzten zehn Jahre sehr gute Arbeit geleistet“, sagte Kolasinac vor der Partie. „Ich hoffe, das heute der Tag gekommen ist.“ Sein Wunsch wurde erhört.