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Derby unter Kiebitzen
Draußen vor der Tür

Draußen vor der Tür: Revierderby unter Kiebitzen
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Dortmund – Schalke. Dazu ist alles gesagt. Doch was geschah in 90 Minuten rund ums Epizentrum des deutschen Fußballs? Wir waren dabei statt mittendrin.

Schon die Anreise hält mehr, als man sich versprechen konnte. A42: „In beiden Richtungen wegen Bauarbeiten gesperrt“, warnen die Vekehrsmeldungen. Plötzlich geht nichts mehr. Die Staumumfahrung beschert immerhin Lokalkolorit. In den Doppelhaushälften und Schrebergärten zwischen Gelsenkirchen-Bismarck und Herne-Crange wird ideologisch aufgerüstet. Vorwiegend flaggt man königsblau. Augenscheinlich Verwandte und Bekannte steigen mit Grillgut und sorsam gefalteten Schals unterm Arm aus Familienkutschen. Das Derby steigt nur zum Bruchteil im Stadion. Ein kleines Spiel für die Akteure, ein gewaltiges für die Region.


Das spürt man derweil auch vorm Signa-Iduna-Park, berichtet einstweilen das Autoradio. Von Festnahmen und Angriffen auf die Polizei ist die Rede, von einer kleinen Gruppe Unverbesserlicher und von Chaoten. Es muss schlimm sein. Endlich angekommen, hat sich die Lage allerdings stabilisiert, denn am Ende geht es doch um Fußball. Zumindest den meisten. Über 1.000 Polizisten sollen im Einsatz sein, also einer auf alle 80 Besucher. Mehr als viermal so hoch wie in den Vorjahren sei der Personalschlüssel angesetzt. Ob das ursächlich für die entspannte Lage ist? Jedenfalls lässt sich der Job der Hundertschaften scheinbar aushalten. Sogar lächeln können die martialisch aufgebrezelten Hundertschafts-Beamten, denn die Fans haben das Feld geräumt, duellieren sich drinnen verbal. Die Gäste stecken ihre Claims ab, Dortmund antwortet.

Pfandpiraterie unter schwarz-gelber Flagge

Draußen ist derweil alles so schwarz-gelb, das einem ganz blümerant zumute werden kann. An jeder Wand und in jedem Winkel steht hier, wo der Doublesieger 2012 sein Zuhause hat. Selbst die Pfandpiraterie segelt unter schwarz-gelber Flagge. Keiner der Flaschensammler, die ums Stadion kreisen, der sich nicht in Schale geworfen hätte. Ob in Trikot oder Kutte gewandet, mit Pins oder Aufnähern verziert: schwarz-gelb hat Konjunktur. Ein Derbysieg gehört für die erfolgsverwöhnten Dortmunder zum guten Ton, ist jedenfalls fest eingeplant.

Knopp

Ob es nun Zufall ist, dass gerade eine Bierdose königsblauer Abstammung durchs feine Raster gefallen ist, oder moralischer Anstand der Dortmunder Zweitverwerter, bleibt zunächst offen. Traurig tropfen schale Reste aus dem vor kurzem noch Erfrischung verheißenden Behälter. Die Flaschensammler haben ihr Tagwerk gewissenhaft verrichtet und schleifen mit wunderlichen Vehikeln klafterweise Büchsen zum Bahnsteig. Auf der gegenüberliegenden Seite macht die U45 Endstation und entlässt eine Handvoll Verspäteter in die Freiheit. Allenthalben bewegen sich schwarz-gelb und königsblau gewandete Menschen in Laufschritt von Parkplatz oder Haltestelle in Richtung Stadion. „Es ist ganz still“, argwöhnt ein Dortmunder Anfang 20 und befürchtet einen Rückstand. Der nächste Passant, der schon länger um die Arena schleicht, verrät derweil einem Fan des Gegners: „Noch nix passiert.“ Dabei ist es längst geschehen.

Ibrahim Afellay ist vor wenigen Augenblicken ausgerechnet in Dortmund auf Schalke angekommen, hatte die Gäste mit einem satten Volleyschuss in Führung gebracht. Nicht ohne dass der königsblaue Anhang sich akustisch endgültig der Szenerie habhaft gemacht hätte. Schlimme Worte, die man da vernehmen muss. Gelsenkirchen findet Dortmund nicht so gut, hört man zwischen den Zeilen heraus.

Für die stubenreine Analyse zeichnet derweil Marcel Reif verantwortlich. Niemand geringeres als der Chefreporter gibt sich bei Sky die Ehre. Das Strobels hat geladen und ist als erste Kneipe neben dem Stadion gefragteste Anlaufstelle für Gestrandete, die bei der großen Party nebenan keinen Einlass mehr gefunden haben. Mittlerweile verweigern finster blickende Haudraufs aber auch hier überzeugend den Zutritt. „Alles zu, in allen Kneipen ist Einlassstopp und ich kenne mich hier gar nicht aus“, klagt das jüngste Opfer der rigiden Türpolitik. Weiblich, attraktiv, allein. Und äußerlich keinem der beiden großen Reviervereine zuzuordnen. Natürlich nimmt sich dennoch niemand als Fremdenführer der Fremden an. Schließlich läuft drinnen Dortmund – Schalke.

Wer kreativ ist, hat sich längst einen Stehplatz auf der Rückseite des Strobels gesichert. Eine große Glasfront verspricht einen Blick auf einen der zahlreichen Flatscreens im Inneren. Dahinter geht die Peepshow weiter. Unter dem Rund des Borusseums erheischen einige Zaunkletterer einen Blick ins Stadioninnere. Zu sehen gibt es immerhin die Anzeigetafel und eine imposante gelbe Menschenwand. Drei Gefahrensucher lungern derweil vor dem Haupteingang. Als ein Besucher gerade Stadionverbot erhält, sehen sie ihre Zeit gekommen, schlüpfen sofort in die kurz geöffneten Stadiontore und rufen Polizei und Ordnungsdienst auf den Plan. Ein kurzes Handgemenge später herrscht wieder angespannte Ruhe.

Irgendwann ist dann Halbzeit. Draußen spürt man davon wenig. Nur, dass plötzlich die gewohnt ohrenbetäubende Halbzeitwerbung über die Fernsehboxen scheppert. Die Zuschauer sind mit Toilettengängen und Nahrungssuche beschäftigt. Die Gaffer ernten mitleidige Blicke. Kurz nachdem es schließlich weitergeht, ist auch schon alles vorbei. Holtby, Höger - 2:0. Die Schalker Fans toben und öffnen die Schleusen. Die Gesichter des Dortmunder Anhangs verheißen Abstieg, Familiendrama und Weltuntergang auf einmal.

Für wirklich erschreckende Bilder sorgen derweil mehr und mehr frühzeitig Vollbediente. Wie einem George A. Romero-Film entschwunden! Einmal mehr wird klar, dass die ureigenste Frage der Menschheit nicht die nach dem Sinn des Lebens ist. Zumindest nicht, so lange niemand schlüssig erklärt, wie zur Hölle man diese Level auf der Promilleskala erklimmen kann. Allein der Anblick macht Kopfschmerzen.

Clemens Tönnies flieht um 17.04 Uhr

Der BVB berauscht sich derweil weniger nachhaltig. Nur einmal explodiert der Signal-Iduna-Park an diesem Nachmittag. Robert Lewandowski war‘s, betrieb aber nicht mehr als Ergebniskosmetik. Dieser Eindruck mehrt sich zusehends auch Seiten des Dortmunder Anhangs. Spätestens ab 17 Uhr flüchten die Fans scharenweise. Auch Clemens Tönnies vedrückt sich durch den Hauptausgang. Der Aufsichtsratsvorsitzender joggt um 17.04 Uhr samt Begleitung gehetzt zum Parkplatz. Termine vermutlich.

Während spätestens mit dem Abpfiff die Dortmunder Völkerwanderung eingesetzt hat, müssen die mit weißen Hüten uniformierten Schalker drinnen warten, leisten den Anweisungen von Polizei und Stadionregie aber so gerne Folge wie selten. "So was hat man lange nicht gesehen“, singt Königsblau noch lange nach Spielende. In der Tat. Ein Jahr ist es her, dass das Erfolgsteam von Jürgen Klopp an gleicher Stelle zuletzt verlor.

Im königsblauen Überschwang sind Reibereien trotz allen Bemühungen um Fantrennung und Deeskalation gleichwohl unvermeidlich. Über der Szenerie steht ein Hubschrauber in der Luft. Darunter mischt sich einen schwarz-weiß-blau-gelber Cocktail zusammen. Es knistert – und es knallt. Wo es hier noch mit einem verbalen Kräftemessen auskommt, sprechen dort bereits die Fäuste. Der Verkäufer der mobilen BVB-Fanshops klappt gelassen eine seiner beiden Luken herunter. Blutflecken wirken nicht verkaufsfördernd. Zwei Platzwunden später können sich die Kontrahenten von eben aber schon wieder vertragen. Arm in Arm. Übrigens nicht die einzigen. Einige Fans der verfeindeten Lager geben sich selbst nach dem Spiel noch so abgeklärt und souverän, dass sie sogar gemeinsam den Heimweg antreten. Und zu guter Letzt nimmt sich auch noch ein Besucher auf dem Heimweg der verwaisten Veltins-Dose an. Der Mann trägt schwarz-gelb. Irgendwie versöhnlich.

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