Als würden die Lottozahlen, die man seit Jahren spielt, gezogen werden, man dann aber sehen, dass man den Schein nicht abgegeben hat. Als würde einen die schönste Frau im Club ansprechen und einen dann nach einem Freund ausfragen. Gefühle, die bei den Fans von Rot-Weiss Essen derzeit präsent ist. Ernüchterung, Enttäuschung und irgendwo auch Wut. Auf wen auch immer.
Groß waren die Hoffnungen nach den ersten Spielen, dass Rot-Weiss Essen in der Saison 2018/19 endlich mal eine Rolle im Aufstiegskampf spielen könnte. Bei vielen Anhängern sind die Bilder immer noch präsent. Spitzenreiter nach den ersten Spieltagen. Das Team wurde auch trotz der 2:3-Niederlage gegen den SV Lippstadt gefeiert, als sich die Bergeborbecker, nach 30 Minuten durch die Rote Karte gegen Kai Pröger dezimiert, lange tapfer gegen die Niederlage stemmten und Kapitän Benjamin Baier in der Schlussminute einen Elfmeter vergab. Auch beim 2:2-Unentschieden gegen Straelen gab es Applaus, als ein 0:2-Rückstand binnen weniger Minuten egalisiert werden konnte.
Die Mannschaft hat die Fans an einem Aufstiegskampf schnuppern lassen. Zumal das Team so sicher, gefestigt und selbstbewusst auftrat, wie man das wohl seit der Ära von Waldemar Wrobel nicht mehr erleben durfte. Nicht von ungefähr titelte RevierSport damals in einem Kommentar: RWE ist reif für den Aufstieg. Es sollte ein Trugschluss sein. Denn längst ist an der Hafenstraße die alljährliche spätherbstliche Tristesse eingekehrt. Die positiven Reaktionen aus dem Umfeld wurden von Woche zu Woche weniger: Platz acht, 14 Punkte Rückstand auf den Tabellenführer. Auch Sportdirektor Jürgen Lucas gab bereits zu: „Wir sind im Moment nur Durchschnitt.“ Was dem RWE-Kader zur Aufstiegsreife fehlt - eine Übersicht.
1.) Druckanfälligkeit Der Mannschaft sind die Tugenden abhanden gekommen, die sie noch zu Saisonbeginn auszeichneten. Mut, Selbstbewusstsein, eine gewisse Leichtigkeit auch in schwierigen Situationen, das hat die Mannschaft an die Spitze gebracht. Jetzt ist alles anders: Aus Negativ-Erlebnissen wurde ganz schnell eine Negativ-Serie. Mittlerweile überwiegt die Angst davor Fehler zu machen. In Drucksituationen wirken die Bergeborbecker überfordert. Neitzel versucht zwar immer wieder den Druck von der Mannschaft zu nehmen, beispielsweise als er die Schuld an der 0:5-Niederlage gegen den BVB II auf sich nahm oder, indem er immer wieder Verständnis für die „Rücksäcke“ aufbrachte. Bisher aber ohne nachhaltigen Erfolg.
2.) Konkurrenzkampf Bei den Neuzugängen im Sommer hatten die Verantwortlichen viel wert auf Flexibilität gesetzt. Diese sei wie ein zusätzlicher Spieler, erklärte Trainer Karsten Neitzel im Sommer. Unter Normalform war dies auch vollkommen richtig, um auf Ausfälle entsprechend reagieren zu können. Nun fehlen jedoch die Alternativen, um auch mal mehreren formschwachen Spielern eine Pause zu geben. Derzeit ist es undenkbar, dass Trainer Karsten Neitzel seine Mannschaft mal auf drei, vier Positionen im Vergleich zum letzten Spiel verändert. Einen wirklichen Kampf um die Plätze gibt es derzeit - auch aufgrund der Verletztenmisere in der Offensive - nur auf der Torwartposition. Und normalerweise sind hier die Rollen klar verteilt.
3.) Talente drücken zu wenig Bis auf Robin Urban und Enzo Wirtz durfte noch kein Einwechselspieler vom vergangenen Wochenende in der Liga von Beginn an ran. David Jansen, aufgrund seiner Achillessehnenverletzung mal außen vor gelassen. Den Talenten aus der eigenen Jugend um Boris Tomiak, Ismail Remmo und Nicolas Hirschberger ist es bisher offenbar nicht gelungen, sich für mehr als den Bankplatz - den sie aufgrund der Kadergröße derzeit eh garantiert haben - zu empfehlen.
4.) Drecksäcke Auch wenn das Auswärtsspiel beim SC Wiedenbrück mit 2:1 gewonnen werden konnte, eines war klar zu erkennen: Ohne Kapitän Benjamin Baier fehlen den Essenern, wie es die WAZ Essen passenderweise nannte, Eier. Jemand, der mit Fouls auch einmal Zeichen setzt. Jemand, der innerhalb kürzester Zeit zur Hassfigur beim gegnerischen Anhang wird. Ein Experte der psychologischen Kriegsführung. Oder besser gleich mehrere. Mit zu vielen lieben Spielern steigt man nicht auf.
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Am Saisonende laufen insgesamt 15 Verträge (Lukas Raeder, Robin Heller, Marcel Lenz, Tolga Cokkosan, Robin Urban, Boris Tomiak, Timo Becker, Timo Brauer, Nico Lucas, Ismail Remmo, Nicolas Hirschberger, Lukas Scepanik, Kai Pröger, Cedric Harenbrock und David Jansen) aus. Neitzel und Lucas dürften in den kommenden Wochen also ein Urteil darüber fällen, mit wem der Aufstiegskampf möglich sein könnte und wem die Aufstiegsreife schlicht fehlt.
RS-Prognose: Im Sommer wird es einen erneuten großen Umbruch geben, der - wenn möglich - schon im Winter eingeleitet wird. Denn wenn man sich die aktuelle Mannschaft genau anschaut, dann muss man zu dem Urteil kommen. Es muss viel verändert werden, mit dem Gerüst, das teils schon lange besteht, kann es keinen weiteren Anlauf auf die dritte Liga geben. Dafür müsste man allerdings auch Spieler infrage stellen, die noch einen Vertrag haben. Denn nach so vielen Jahren ohne Aufstiegskampf darf es in Essen keine gedanklichen Tabus geben Autor: Stefan Loyda