Auf dem Weg zum Training verstieß Antonio Rüdiger gegen den wohl wichtigsten Grundsatz eines Abwehrspielers. „Safety first, Jungs“, hatte der Verteidiger seine Helm-losen Kollegen in der „Bike-Gang“ mit Leroy Sane, Ilkay Gündogan und Emre Can zuletzt noch selbst ermahnt - doch am Sonntag verzichtete plötzlich auch Rüdiger auf den Kopfschutz. Auf dem Platz aber ist auf den gereiften Chelsea-Profi stets Verlass.
„Toni Rüdiger hat bei uns zuletzt immer gespielt. Das habe ich schon gesagt, als er bei Chelsea nicht gespielt hat“, betonte Joachim Löw. Auch beim Kracher-Start in die EM gegen Weltmeister Frankreich am Dienstag (21.00 Uhr/ZDF und MagentaTV) ist der Champions-League-Sieger in der Dreierkette gesetzt. „Er ist ein Innenverteidiger auf allerhöchstem Niveau und mit seiner Art und Weise, wie er spielt, für uns ein absolut wichtiger Spieler“, betonte Löw.
Seine Klub-Kollegen Kai Havertz und Timo Werner rühmten Rüdiger als einen „Krieger“, DFB-Nebenmann Mats Hummels sagte fast ehrfürchtig: „Die letzten Monate - da kann man durchaus das Wort Weltklasse in den Mund nehmen. Toni hat gezeigt, dass er ein absolut überragender Verteidiger sein kann.“
Doch Rüdiger winkt bei so viel Lob nur lässig ab. „Dieses ganze Krieger-Ding - wenn ich ehrlich bin, habe ich so schon immer gespielt“, sagte er. Dass er in die Kategorie „Weltklasse“ eingestuft werde, habe viel mit dem Triumph in der Königsklasse zu tun, „aber ich weiß, dass ich an mir arbeiten muss. Und das tue ich.“
Dennoch ist nicht zu übersehen und zu überhören, dass der 28-Jährige einen beachtlichen Reifeprozess durchgemacht hat. Seit der gemeinsamen Stuttgarter Profizeit beim VfB Stuttgart (2013-2015) habe sich Rüdiger „extrem weiterentwickelt“, sagte Werner, „er ist eine Persönlichkeit geworden“. Und ein richtiger Anführer, der seine Nebenleute lautstark dirigiert.
Dabei sehe Rüdiger „manchmal ein bisschen grimmig aus“, meinte Werner augenzwinkernd, erst recht aktuell mit seiner schwarzen Gesichtsmaske, die er seit seinem Jochbeinbruch Ende April trägt. Aber, betonte Werner: „Toni kann sehr witzig sein und ist ein herzensguter Mensch.“ Klar, „ein bisschen verrückt“ sei er schon, der Junge aus Berlin-Neukölln, „aber das ist auch das Gute an ihm: So geht er auch in die Zweikämpfe.“
Was ihn antreibt? „Für mich war der Fußball ein Weg, aus der Armut rauszukommen“, berichtete Rüdiger im EM-Quartier, „ich wollte meiner Familie ein besseres Leben schenken.“ Dieses Gefühl sei noch immer sehr präsent, auch wenn der sozial engagierte Profi längst Millionen verdient. „Alles was ich tue, tue ich für meine Familie“, betonte er mit fester Stimme.
Inzwischen ist Rüdiger selbst Vater. Sohn Djamal kam im Frühjahr 2020 zur Welt, Tochter Aaliyah Trophy kurz vor der EM. Dass Rüdiger seine Frau Laura und das Neugeborene nach wenigen gemeinsamen Stunden verließ, um zur DFB-Auswahl zu stoßen zeige, „wie wichtig ihm die Nationalmannschaft ist“, meinte Direktor Oliver Bierhoff.
Die EM 2016 hatte Rüdiger noch wegen eines Kreuzbandrisses kurzfristig verpasst, nach dem Confed-Cup-Triumph 2017 spielte er beim WM-Desaster 2018 nur gegen Schweden (2:1). Danach schienen Berichte, Rüdiger sei mit Wasserpfeife ins Trainingslager gereist, die Vorurteile vom „Sauhaufen“ DFB-Auswahl zu bestätigen. Vorbei.
Löw hielt zu ihm - auch, als er bei Chelsea vor dem Trainerwechsel zu Thomas Tuchel aussortiert schien und an Flucht dachte. „Das war ein enormer Vertrauensbeweis des Bundestrainers, für den ich auch extrem dankbar bin“, sagte Rüdiger. Bei der EM will er zurückzahlen. Als „Krieger“, ohne Helm. sid