Es war eine Szene, von der jeder Reservist träumt: Endlich einmal kommt er zum Einsatz, das Spiel steht auf Messers Schneide – und kurz vor Schluss macht er den entscheidenden Treffer und bringt seiner Mannschaft den Sieg. Genauso erging es Jeremy Toljan am Freitagabend: Von Shinji Kagawa freigespielt, tauchte er recht frei vor dem Tor auf, schob den Ball sicher ein und sorgte so für den 3:2 (1:0)-Sieg von Borussia Dortmund.
Allerdings war das Ereignis mit einigen Schönheitsfehlern behaftet: Es war nur ein Testspiel, Gegner war nur der Drittligist Sportfreunde Lotte – und Toljan hatte nur gespielt, weil ein Großteil der etablierten Kräfte auf Länderspielreise bei der jeweiligen Nationalmannschaft weilt, verletzt ist oder am Freitag geschont wurde. So kam eine Elf zustande, in der Außenangreifer Marius Wolf als Rechtsverteidiger auflief, Tim Sechselmann innen verteidigte und Sergio Gomez, eigentlich im zentralen Mittelfeld beheimatet, den Rechtsaußen gab.
Toljan verteidigte auf der linken BVB-Seite
Und Toljan lief auf der linken Abwehrseite auf, wo er immer wieder den Weg nach vorne suchte. Der 24-Jährige wird hoffen, dass er mit seinem Treffer in einer über weite Strecken recht zähen Partie ein wenig Pluspunkte bei Trainer Lucien Favre gesammelt hat. Denn der bevorzugte auf den Außenverteidiger-Positionen bislang zunächst die Etablierten Kräfte Marcel Schmelzer und Lukas Piszczek, erster Vertreter war Achraf Hakimi, die Leihgabe von Real Madrid. Toljans Pech: Alle drei lieferten ordentliche bis sehr gute Leistungen ab, die Mannschaft eilte von Sieg zu Sieg – sodass es für Trainer Lucien Favre keinen Anlass gab, etwas zu ändern. Nur in einem Pflichtspiel schaffte es Toljan in den Kader.
Und als endlich einmal seine Chance hätte kommen können, als Schmelzer, Piszczek und auch noch der Aushilfs-Linksverteidiger Abdou Diallo ausfielen, verletzte sich Toljan selbst, erhielt im Testspiel bei Alemannia Aachen einen Schlag aufs Knie und zog eine Knieprellung davon.
Toljan hadert noch nicht mit seiner Situation beim BVB
So kurios es klingen mag: Auch deswegen hadert Toljan noch nicht mit seiner Situation in Dortmund: Der U21-Europameister hat nicht das Gefühl, unfair behandelt zu werden oder bereits abgeschrieben zu sein. Denn er wusste im Sommer, dass er einen schweren Stand haben würde. Zwar wurde ihm klar kommuniziert, dass Schmelzer, Piszczek und zunächst einmal die Leihgabe Hakimi vor ihm stehen würden. Doch chancenlos wähnte sich Toljan nicht, entschied sich daher, in Dortmund zu bleiben – trotz hochkarätiger Angebote aus dem Ausland. Offensivstarke Außenverteidiger sind eine begehrte Ware, unter anderem zeigte sich der SSC Neapel sehr interessiert. Doch Toljan entschied sich zum Bleiben, wollte das schwierige erste Jahr nicht als Maßstab sehen. In dieses war er wegen der U21-Europameisterschaft praktisch ohne Vorbereitung gestartet, war dann in eine auseinanderfallende Mannschaft gekommen und hatte sein Potenzial nie wirklich abrufen können – so sah er das.
An seine Chance glaubt er weiterhin – und auch seine Fähigkeit, sich in der hochkarätig besetzten Dortmunder Mannschaft durchzusetzen. Was Favre nach dem Spiel sagte, war allerdings nicht unbedingt als Mutmacher geeignet: „Wir haben viele Außenverteidiger, das gehört dazu“, sagte der Trainer, als er auf Toljans Situation angesprochen wurde. „Aber es war wichtig für ihn und viele Spieler, mal 90 Minuten zu spielen.“ Begeisterung klingt anders.
Autor: Sebastian Weßling