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"Nivel-Angreifer" Frank Renger engagiert sich bei TuRa 86
Der nette Herr Hooligan

Essen: "Nivel-Angreifer" Frank Renger engagiert sich bei TuRa 86
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Altendorf, Essens Multi-Kulti-Stadtteil schlechthin. Hartz-IV-Realitäten allerorts, sozialer Brennpunkt. Die Haute-Volée der Ruhgebietsmetropole kennt die meisten Ecken allenfalls vom Hörensagen. Doch auch mitten in einem Milieu des Scheiterns gedeihen hier ganz eigene kleine Erfolgsgeschichten. So wie die von Frank Renger. Vor elf Jahren trat er den französischen Gendarmen Daniel Nivel ins Koma und „avancierte“ zur „nationalen Schande“, heute hat er einen Job und eine Aufgabe. Als Ehrenamtlicher in der Kreisliga.

Noch kicken ein paar Kids auf dem kleinen Feld auf kleine Tore. Nebendrein beugt sich ein kleiner, untersetzter Mann im schwarzen Trainingsanzug über die Stange am Spielfeldrand. Die schwarze Sonnenbrille ins schwarze Haar zurückgeschoben, blinzelt er in die Sonne. Es ist einer der ersten Frühlingstage des Jahres. Selbst der Hinterhofs-Tristesse, die den Platz des Kreisligisten TuRa 86 umzingelt, ringen die ersten Sonnenstrahlen einen metropolitären Chic ab.

In rund einer halben Stunde erst beginnt das Training der „Großen“. Der Mann in Schwarz ist früh dran. Denn er möchte noch seine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die hier am Platz jeder kennt, auch wenn es vielen schwer fällt zu fassen, welche Schuld der Mann auf sich geladen hat, dass selbst Bundeskanzler Helmut Kohl seine Tat einst als „nationale Schande“ geißelte, dass sich Deutschland für diesen Menschen schämte, für Frank Renger.

Ein paar Treppen muss man hinterm Platz hinuntersteigen, um zum Vereinsheim zu kommen. Eine umgebaute Garage, um genau zu sein. Die Sitzecke neben der Bar versprüht einen entsprechend muffigen Charme, eingerichtet in einer ruhrgebietstypischen Melange aus „Gelsenkirchener Barock“ und Sperrmüll-Fundstücken. An den dünnen Wänden kleben Goldrahmen mit Bildern aus alten Fußballtagen. Renger fläzt sich in einen der grünen Filzsessel und beginnt zu erzählen. Von jenem denkwürdigen Tag im Juni 1998.

Alles beginnt mit einem Anruf: „Hast Du Lust, mit nach Lens zu kommen?“, fragt ihn ein Freund. Schon sitzt Frank Renger im Auto, auf der Bahn Richtung Frankreich. Dort steigt gerade das größte Fußballfest der Welt. Deutschland spielt gegen Jugoslawien, es ist WM.

Frank Renger ist bei TuRa 86 völlig selbstverständlich integriert.

Das Finale soll Renger allerdings bereits nicht mehr in Freiheit erleben. „Als wir am Bahnhof ankamen, war schon alles voller Deutscher. Die haben richtig Krawall gemacht, es wurde schon mit Tränengas rumgeschossen und so, es herrschte von Anfang an eine total aggressive Stimmung.“ Als Konsequenz wird das Public Viewing in der Innenstadt abgesagt. Renger verdrückt sich mit seinen Kumpels in einen Pub, wenigstens auf einem Fernseher wollen sie „Deutschland gucken“. Bundestrainer Berti Vogts und seine Jungs liegen zwischenzeitlich schon mit 0:2 hinten, rumpeln sich durch ein Eigentor der Jugoslawen aber wieder heran und schließlich erzielt Oliver Bierhoff sogar noch den Ausgleich. „Und als das Tor fiel, macht der Wirt auf einmal den Fernseher aus. Da ging es dann natürlich schon rund, es sind Stühle durch die Scheiben geflogen, die haben das Ding komplett auseinander genommen.“

Mit ruhiger Stimme und festem Blick spricht er über den folgenschweren Tag, doch plötzlich schwenkt sein Blick in die Ferne, die rechte Augenbraue beginnt unwillkürlich zu zucken. Denn plötzlich ist da „diese Information“. Angeblich warten 100 Engländer am Stadion darauf, sich mit den Deutschen „zu messen“. Ob das stimmt, weiß Renger bis heute nicht, denn das Stadion wird er nie erreichen. „Da war natürlich alles abgeriegelt. Aber plötzlich hieß es, dass an einer Stelle nur drei Polizisten wären und wir da durchkommen könnten. Wir kamen also da hin und haben nur gesehen, dass schon einer auf dem Boden lag.“

Und Renger soll den schwersten Fehler seines Lebens begehen: „Ich bin hingerannt und habe eben mit reingetreten“ - in Daniel Nivel, einen französischen Gendarmen. „Ich habe erst gar nicht gemerkt, dass das ein Polizist ist“, beteuert Renger heute. „Ich dachte, es sei ein Engländer. Als ich das dann schließlich gemerkt habe, war auch überall schon Polizei und ich bin nur noch durchgespurtet bis zum Auto.“ Renger startet durch und fährt mit quietschenden Reifen zurück nach Deutschland. Die Angst sitzt ihm im Nacken. „Schon auf der Fahrt haben wir davon gehört und ich wusste sofort, dass ich dabei war.“ Einen Tag später macht die Bild-Zeitung mit einem Foto der Tat auf. „Und ich war mit darauf zu sehen, spätestens da war mir natürlich klar, was auf mich zukommt.“ Zuhause vertraut sich Renger seiner Frau an, die nichts von seinem speziellen „Hobby“ weiß. Wenig später steht die Polizei vor der Tür.

Frank Renger.

Der damals 30-Jährige wird nach Hannover verfrachtet, wo der Hauptangeklagte, der mit einem Gewehraufsatz auf Nivels Kopf einschlug, wegen versuchten Totschlags den Prozess gemacht bekommt. Von der Untersuchungshaft aus geht es für den gebürtigen Gelsenkirchener schließlich wieder zurück nach Essen, wo ihm das Landgericht fünf Jahre Freiheitsstrafe aufbrummt: „Da ist eine Welt für mich zusammengebrochen.“ Zwar hatte sein Anwalt ihm zuvor schon fünf bis acht Jahre Gefängnis angekündigt, die Staatsanwaltschaft forderte sieben. „Aber als das Urteil dann verlesen wurde, war es ein absoluter Schock“, seufzt der Geläuterte.

Lesen Sie auf Seite 2: Rengers Zeit im Knast und sein Weg zu TuRa

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