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Der EM-Blog (14): Die Russen kommen
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"ExtraSchicht", die lange Nacht der Industriekultur. Ben Redelings und Blogger Ralf Piorr betrieben auf der Zeche Zollverein eine literarische Fußball-Bühne.

Amouröse Avancen bekamen sie allerdings erst, als sie die Bilder des Viertelfinales Niederlande gegen Russland auf die Leinwand zauberten.

„Zur Not schaue ich mir das Spiel auf dem verdammten Pizzadeckel an“, blökte der Kollege Ben Redelings lauthals los. Das Viertelfinale Holland - Russland begann, und es war noch viel zu hell, um etwas sehen zu können. Die Gesichter der erwartungsvollen Zuschauer warfen sich in missmutige Falten, nur die Leinwand strahlte ganz in weiß. Sie zog einfach zu viel Außenhelligkeit. Nur wenn man die leere Pizzaschachtel direkt vor den Beamer hielt, konnte man etwas erkennen. Sogar erstaunlich gut. Aber sollte es das wirklich sein? Das Viertelfinale auf einem Pizzadeckel? Die Fußballbühne auf der Zeche Zollverein, die Ben Redelings und ich literarisch versorgten, hatte ihre erste spielerische Krise. Ich gestehe, wir dachten - wie auch Jogi – an den Rücktritt, nein eher sogar: an Flucht.

Zuvor lief es nach anfänglichem Abtasten eigentlich ganz gut. Obwohl abseitig gelegen, zauberte Redelings aus seinem reichhaltigen Repertoire O-Töne, geniale Versprecher und enthusiastische Torschreie hervor, die weit über das Gelände halten und die Menschen zu uns führten. Gäste wie Berti Vogts, Erich Ribbeck und Peter Neururer konnten wir zwar nicht wirklich begrüßen, aber zumindest taten wir so. Wohlwollend wurden wir zur Kenntnis genommen. Vielleicht aber auch nur in Erwartung des Spiels, denn das Vorgeplänkel ist man ja auch im Fernsehen gewohnt. Insgesamt hatte unsere Fußballbühne etwas von einem „Headshop“, Sie wissen ja, ein Geschäft, wo man alles rund ums „Kiffen“ kaufen kann, nur nichts zu kiffen. So war es bei uns, vor allem genau um 20.45 Uhr: Es gab alles rund um den Fußball, nur keinen Fußball.

"Auch bei ihr steht es null zu null."

Jetzt half nur kühne Improvisation. Wir verwarfen Hexameter, Jamben und rhetorische Kniffe und verdingten uns als schlichte Handwerker. Eine Zeltplane wurde zur Verdunkelung über die Leinwand gespannt und der Beamer verstellt, während der Live-Kommentar bereits aus den Monitoren hallte. Nach etwa 20 Spielminuten entstand zwar nur ein kleines und relativ kontrastarmes, aber immerhin doch ein Bild auf der Leinwand. „Ihr seid meine Helden“, raunte uns eine Frau zu, die zur Extraschicht aus Köln angereist war. Keine andere unserer bisherigen Darbietungen hatte für mehr Verzückung gesorgt. Als Béla Réthy verkündete „Am Rand steht Sylvie van der Vaart - auch bei ihr steht es null zu null“ konnten auch wir „sehen“, was er meinte.

Überhaupt Réthy! Während „die Russen auf Orangenernte“ gingen, hatte er sich wohl zuvor an einem ganz anderen bekannten holländischen Landwirtschaftsprodukt vergriffen. Van Nistelrooy ließ er gleich gegen das Ganze „russischen Reich“ antreten, während er in der Beschreibung von Pavlyuchenko & Co. tief in den Dostojewski griff: „Es fehlt ihnen an der russischen Kälte vor dem Tor - da ist zu viel russische Seele dabei!“

Ungläubig strömten immer mehr Menschen zur Leinwand.

Dabei zeigt doch gerade diese EM, das viele Stereotype nicht mehr stimmen: Die Russen spielen wie die Holländer, die gestern wiederum wie erfolglose Deutsche vergangener Zeiten auftraten. Der Abwehrmythos der Squadra Azzurra bröckelt, während die Kroaten wenigstens eine Zeit lang mit italienischer Effizienz agierten. Die Franzosen dagegen kickten ohne Esprit, und die Tschechen mit Jan Koller im Sturmzentrum lieferten eine Art kick & rush. Nur die Portugiesen und Griechen blieben sich treu: Die einen schieden in Schönheit aus, die anderen spielten Kacke. Nur wurden die Hellenen damit vor vier Jahren Europameister.

Als die Russen die 1:0-Führung erzielten, verbreitete sich die Kunde schnell über das weite Gelände von Zollverein, Ab und an hörte man aus der Ferne: „Die Russen führen“. Die Rufe klangen überrascht und ein bisschen schockiert. Ungläubig strömten immer mehr Menschen zur Leinwand. Als van Nistelrooy den Ausgleich markierte, brandete noch Jubel auf. Aber in der einseitigen Verlängerung, in der die holländische Mannschaft offensichtlich versuchte, sich ins Elfmeterschießen zu retten, eroberte Guus Hiddinks junge Truppe alle Sympathien. „Ist der Arshavin nicht geil“, stöhnte die Frau aus Köln neben mir, als der Stürmer, der auch Werbung für „Kinderschokolade“ oder „Rotbäckchen“ machen könnte, erneut zu einem Dribbling ansetzte.

"Ist der Arshavin nicht geil?"

Am Ende schied die Elftal verdient aus. Überhaupt sah ich keine „Elf“ auf dem Platz, sondern viele Individualisten in orange, die mehr sich selbst zelebrierten als für das „Team“ spielten. Selbst das 1:1 hatte nichts mit einem gemeinsamen Aufbäumen zu tun. Vielleicht ist es wirklich so, dass man bei großen Turnieren die Vorrunde nur irgendwie überstehen muss, um dann erfolgreich Glänzen zu können. Der Auftritt der Holländer hinterlässt viele Fragen, Ausrufungszeichen setzten nur die Russen. Die Ausbildungsakademie von Roman Abramowitsch und anderen solventen Sponsoren scheinen zu fruchten. Der Gewinn des UEFA-Cups durch Zenith St. Petersburg wurde durch diesen Auftritt der „Sbornaja“ bestätigt. Die Zukunft des europäischen Fußballs könnte somit im Osten liegen.

P.S. Das Treiben des Kollegen Ben Redelings gibt es unter:

scudetto.de/

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