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Zwischen den Polen
Das Wunder von Danzig

Zwischen den Polen: Zwischen den Polen
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Die vergangenen 60 Stunden verbrachte ich in vier Flugzeugen, drei polnischen Städten (Poznań/Warszawa/Gdańsk) und zwei wunderbaren Fußballtempeln.

Zu 180 Minuten Live-Fußball gab es ganze sechs Stunden Schlaf, die Wochentage wurden durcheinander gebracht, meine Habseligkeiten auf maximal 6 kg in 55 x 40 x 20cm reduziert.

Schwarzer Tee mit Zitrone und Zucker, trockener Brötchenersatz (angeblich mit Schinken und Käse, vielmehr mit Geschmackextrakt), Erfrischungstücher und „Przegląd Sportowy“ sind Dauergäste auf meinem Tisch, den ich beim Landeanflug ordnungsgemäß hochklappe. Smiths Heimann, Duty Free, Boarding und Shuttle in einer hitzfeldesken Rotation. Als ich an zwei aufeinander folgenden Tagen noch zufällig denselben Sitz (17C) und dasselbe Flugpersonal erwische, zweifle ich kurz an meinem Verstand. Perfide Routine im leidenschaftlichen Dienste der transitorischen Sportart.

Jakub Wawrzyniak, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen aktuellen polnischen Nationalspieler, wurde 1980 in Poznan geboren, kam 1996 als Diplomatenkind nach Köln und wurde 2007 Vizekonsul für Kulturangelegenheiten und Öffentlichkeitsarbeit im polnischen Generalkonsulat. Seit Kindertagen ist er bekennender Fußball-Fan und Mitglied der Leidensgemeinschaft des 1. FC Köln. "Der Glaube kann Berge versetzen" ist sein Credo - als Pole, leidenschaftlicher Anhänger seiner "Kadra" und EM-Reisender ist er sehr gläubig und für RevierSport als Gastkolumnist tätig.

In der Heimatstadt, wo die Reise immer wieder startet, ist nichts mehr, wie es war. Die Iren „machen den Poznań“ und der Posener Himmel macht uns jetzt den Donezk. Die gute Laune und das (schlechte) Wetter bringen sie immer mit, erzählen mir Adam, Gareth, Ben und Barry. Und sie bringen viel davon, stelle ich frierend beim spontanen Grillabend fest. Gastgeschenke von meinen neuen irischen Nachbarn. Wenn sie wüssten: ihr Wohnwagen steht ausgerechnet auf dem heiligen Rasen. Dort, wo ich früher die Welt- und Europameisterschaft im Eins gegen Eins mit meinem besten Freund Jendrek nachgespielt habe. Doch ganz im Sinne unseres Slogans „Feel (like) at home“ wollen und werden wir alle Gastgeber.

Die importierte „sommerliche“ Kälte und der in Polen hart erarbeitete Dauerkater tun ihrer Stimmung keinen Abbruch. Hand in Hand oder vielmehr Glas in Glas drücken wir - die Schicksalsgenossen – an diesem Abend unseren Freunden aus der Ukraine die Daumen. Aus welcher Motivation auch immer, sei es für die Ukraine oder einfach gegen die Engländer. Der Fußballgott entscheidet sich leider vor allem für die Ironie. Rooney’s neue Haarpracht und ein dritter (Voll)Pfosten an der Torlinie beenden das gelb-blaue Freudenfest.

Meine neuen Nachbarn hängen zwar noch in den Seilen, scheinen sich aber mit hohem Bierkonsum aus dieser prekären Lage helfen zu können. Bis sechs Uhr morgens hätten sie am Vortag die dritte Niederlage der Iren gefeiert, dabei das Posener Straßenbahnsystem auf Herz und Nieren geprüft. Tagsüber darin hüpfend, nachts damit durch die Stadt irrend. Die grüne Invasion erobert im Sturm die polnischen Herzen. 70.000 irische Fans, mehr als ein Zehntel der Posener Population, besuchen in diesen Tagen meine Heimatstadt. Am letzten Spieltag gegen Italien bekommen sie einen absoluten und anerkennenden Sympathiebeweis: fast 12.000 polnische Fans tragen im Stadion grün.

Diese Liebe scheint sogar die Sprachbarrieren zu überwinden: „The Fields of Athenry“ ertönt in der ganzen Stadt. Gemeinsam wird auch „Pol-skaaaaaaaa, Biało-Czerwoni” (dt. Polen, die Weiß-Roten) angestimmt, obgleich die irische, phonetische Interpretation des polnischen Fußballliedgutes aus meiner diplomatischen Sicht etwas kontrovers und nicht ganz richtig ist: „Pol-skaaaaaaaa, I hate Germany“. Auf Facebook wird bereits ein Freundschaftsspiel Polen-Irland in Posen laut- und like-stark gefordert. Unsere Gäste „drohen an“, mit ganzen Familien zurückzukehren. Posen wird’s freuen, sind doch in den letzten Wochen über 24 Mio. irische Euro in die Stadt geflossen. Leprechaun lässt grüßen!

Unter Dauerbeschuss der heimischen Mücken und bei sommerlichen acht Grad tauschen wir EM-Geschichten aus. Ich berichte von der Ukraine und preise die weiteren polnischen Städte an. Posen, Danzig und Thorn kennen sie bereits. Es wirkt – die Karawane zieht weiter (nach Breslau), der Ire hat Durst. Manchmal gar so viel Durst, dass er zur eigenen Überraschung erst im Nachhinein realisiert, im Stadion alkoholfreies Bier getrunken zu haben. Egal, Hauptsache es wirkt: von kleinen Gedächtnislücken bis hin zu 36-stündigem „Vermisstwerden“. Die „Boys in the Green“ haben zwar die meisten Tore kassiert, dafür aber die meisten Herzen gewonnen, unseren „szacun“ (dt. Respekt) verdient.

Bei den beiden Viertelfinalspielen kehrt blitzartig immer wieder der Gedanke, wie schön es doch hätte alles kommen können. Insbesondere in den Augenblicken, als in Warschau und in Danzig (fast) das ganze Stadion steht, klatscht und laut „Polska!“, „Biało-Czerwoni“ und „Jesteśmy z Wami, Polacy jesteśmy z Wami“ (dt. Wir sind mit Euch, Polen, wir sind mit Euch!) brüllt. Die Portugiesen und die Griechen hört man kaum, nur die Tschechen (dank polnischer Unterstützung) und die Deutschen können abschnittsweise den polnischen Fangesängen Paroli bieten. Alles perfekt und bewegend, lediglich die eigene Mannschaft fehlt auf dem Platz. So müssen halt die deutschen Weiß-Roten einspringen und das Lied abermals neu interpretiert werden: „Deutschlaaaaaaand, Biało-Czerwoni!”.

Hätten die Weiß-Roten Cristiano Ronaldo zum Weinen gebracht? Die völlig unnötigen Pfiffe im Stadion taten es schon mal nicht. Geweint hat übrigens auch Angela Merkel nicht, obgleich sie mit Ronaldo dasselbe Schicksal teilte. Während bei den Beiden die Frisur sitzt, liegen die Sympathiewerte oft im Keller. Politik und Fußball, das geht selten gut. Obgleich ich die Kreativität mancher Fans bewundere und vor dem Danziger „Eurorettungsschirm“ meinen Hut ziehe, finde ich die Zeilen, die durch die Danziger Altstadt hallen: „Ohne Deutschland habt ihr keinen Job“ grenzwertig. Gott sei Dank verläuft alles friedlich.

In Warschau und in Danzig treffe ich viele deutschen Freunde, lerne viele Deutsche kennen. Schließlich sind wir doch alle (sehr gute) Gastgeber, habe ich mir sagen lassen, von den Iren, den Griechen, den Ukrainern, den Spaniern, den Deutschen. Und sie? Sie alle sind wunderbare Gäste. Ein Beispiel gefällig? Na gut, dann also das Wunder von Danzig. Seit der Ankunft meiner EM-Tickets habe ich sie auf eine paranoide Art und Weise geschützt. Vor Diebstahl, vor Wasser, vor Feuer, nachts unterm Kissen. Am liebsten hätte ich sie mir unter die Haut packen lassen, hätte mein Onkel, der Schönheitschirurg, seine Bedenken nicht geäußert.

Dass mein Ticket ausgerechnet fünf Meter von den Toren der PGE Arena Danzig aus meiner Tasche vorm Winde verweht wird, trifft mich unerwartet schwer. Ironie des Schicksals? Für ein einziges Foto nehme ich das Ticket aus der Hand, Jendrek ist längst im Stadion, es ist kurz vor acht und mir wird plötzlich sehr schlecht, auf einmal wird mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Der Rucksack ist leer, wie meine Taschen. Mein Kopf brennt, das Herz rast. Ich laufe zweimal die Strecke ab, führe erste verzweifelte Gespräche mit den illegalen Ticketverkäufern. Als ich kurz vorm Weinen stehe, erblicke ich mein Ticket. Mein Schatz, mein Ticket, meins, meins, meins!

Den drei Jungs aus Kleve und Düsseldorf ist mein Ticket wortwörtlich so zugeflogen. Nun wollten sie’s verkaufen. Meine Freudentränen, mein Diplomatenpass und der Vermerk „Government“ auf der Eintrittskarte überzeugen das Trio, genauso wie Jendrek’s Zeugenaussage, belegt durch sein Ticket. Sie geben es mir zurück! Wir drücken uns, ich drücke meine Dankbarkeit im (alkoholfreien) Bier aus, wir tauschen die Nummern aus. Meine drei Engel, drei Engel für Kuba.

Ih genieße das Spiel wie ein neugewonnenes Leben. Danke Ralf, danke Jungs, für solche Gäste ist man gerne guter Gastgeber!

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